Duisburg. Sandy (23) und Maurice (26) haben FASD. Ihre leibliche Mutter trank Alkohol in der Schwangerschaft. Die Behinderung begleitet sie ein Leben lang.
Die 23-jährige Sandy würde gerne mal über Nacht allein bleiben oder ohne ihre Eltern in den Urlaub fahren, aber das traut sie sich nicht. Der 26-jährige Maurice würde gerne alles verstehen, was die „Erwachsenen“ um ihn herum besprechen, aber das kann er nicht. Sandy und Maurice sind zwei von sieben Geschwistern, die ihren leiblichen Eltern weggenommen wurden. Maurice war damals vier Jahre alt und konnte noch kein Wort sprechen. Die Erklärung des Jugendamts: Ihm habe jegliche Zuneigung und Frühförderung in den ersten Lebensjahren gefehlt. Dass noch etwas anderes dahintersteckte, fand man erst Jahre später heraus: Alkohol während der Schwangerschaft.
Laut dem Verein FASD Deutschland e.V. trinkt in Deutschland mehr als jede vierte schwangere Frau – einige davon versehentlich. Jeder einzelne Tropfen gelangt aus dem Blut der Mutter direkt in den Kreislauf des Ungeborenen und verteilt sich in seinem Körper. Das Zellgift kann bereits in kleinen Mengen die wachsenden Organe und insbesondere das Nervensystem schädigen. Die Folgen: angeborene Fehlbildungen, geistige Behinderungen, hirnorganische Beeinträchtigungen, Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten. Alle Formen dieser vorgeburtlichen Schädigungen werden unter dem Begriff Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) zusammengefasst. Die Ausprägungen der Behinderung sind bei den Betroffenen sehr unterschiedlich. Äußere Merkmale wie Kleinwuchs, Untergewicht und Gesichtsveränderungen zeigen sich bei rund 30 Prozent. Geistige Einschränkungen machen sich häufig erst im mittleren Kindesalter bemerkbar und weisen viele Parallelen zu psychischen Krankheiten wie ADHS, Autismus oder einer Posttraumatischen Belastungsstörung auf.
Alkohol in der Schwangerschaft, FASD-Diagnose erst mit acht Jahren
So ahnten Maria und Heinrich Höller damals noch nicht, dass der kleine Maurice, in dessen Kulleraugen sie sich im Kinderheim verliebten, von FASD betroffen war. Die Duisburger hatten bereits drei gesunde leibliche Kinder. Als ihr Jüngster in die Schule kam, entschieden sie, „einem Kind nochmal eine Chance zu geben“ und wurden zu Pflegeeltern. Die Höllers waren Maurices Glück. In den ersten zwei Jahren machte er große Entwicklungssprünge, begann zu sprechen und verhielt sich wie ein aufgewecktes Kind. „Da haben wir noch gedacht, dass er auf eine normale Schule gehen könnte“, erinnert sich Frau Höller.
Doch im Alter von sieben Jahren wurde sein Verhalten auffällig und impulsiv. Lesen, Schreiben und Rechnen fiel ihm schwer. Maurice kam auf eine Waldorfschule für lernbehinderte Kinder. „Das war großartig, weil sie dort viel Handwerkliches gemacht haben“, sagt Herr Möller. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie Essen konnte zu dieser Zeit erstmals festgestellt werden, dass der Junge eine geistige Behinderung hatte und mit seinem Alltag überfordert war. Erst mit acht Jahren erhielt er die Diagnose FASD.
„Ich bin wie der kleine Hase Felix, der um die Welt geschickt wird“
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Seine Schwester Sandy kam derweil erst in einer Bereitschaftspflegefamilie und anschließend in einer anderen festen Pflegefamilie unter. Als das Mädchen vier Jahre alt war, gaben die Pflegeeltern sie wieder ab, weil sie selbst ein krankes Kind zur Welt brachten. So beschlossen die Höllers, auch Sandy bei sich aufzunehmen. „Ich bin wie der kleine Hase Felix, der um die Welt geschickt wird“, erzählt die 23-Jährige freudestrahlend, während sie ihre selbstgenähte Handpuppe Heribert fest im Arm hält.
„Sandy war mit vier Jahren körperlich und geistig richtig gut entwickelt, sodass wir uns fast sicher waren, dass sie kein FASD hat“, erzählt Frau Höller. Als das Mädchen in die Grundschule kam, wurden sie vom Gegenteil überzeugt. „Selbst in einer Eins-zu-eins-Betreuung konnte sie sich kein bisschen auf die Aufgaben konzentrieren“, so die Pflegemutter. Bis heute sei sie sehr vergesslich und habe eine schlechte Orientierung. Aber: Bei Sandy ist die Behinderung längst nicht so stark ausgeprägt wie bei ihrem Bruder. „Sie hat mithilfe von i-Helfern sogar den Realschulabschluss geschafft“, erzählt Herr Höller.
„i-Helfer“ begleiten sie bis heute
Die sogenannten „i-Helfer“ alias Integrationshelfer begleiten Sandy und Maurice bis heute. Früher gingen sie mit ihnen ins Kino, zum Reiten oder halfen in der Schule, heute leisten sie ihnen bei der Arbeit Assistenz. Beide arbeiten in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, blühen im Handwerk so richtig auf. Während Sandy gerne näht und Kuchen backt, tobt sich Maurice am liebsten in der Schreinerei aus und erklärt seinen Eltern die Welt, wenn es um Autos oder Computer geht. Der 26-Jährige lebt mittlerweile in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft. Hier wird die Woche für ihn durchgetaktet und sein Geld für ihn verwaltet. Beides ist notwendig, denn mit Unvorhersehbarem kommt er nur schwer klar und wenn er montags sein Taschengeld abholt, ist es spätestens am Dienstag weg. „Maurice hat kein Gefühl für Zahlen und Wert“, erklärt seine Pflegemutter. Sandy kann sich ihr Geld gut selbst einteilen, dafür kommt ein Auszug aus dem Elternhaus für sie noch nicht infrage.
„Mich stört das gar nicht bei Mama und Papa zu sein“, betont sie. „Sandy ist im Geiste noch wie ein Kind“, erklärt Frau Höller. Sie habe zum Beispiel Angst im Dunkeln und wenn der Bus mal nicht die gewohnte Strecke fährt, sei sie gleich überfordert. „Irgendwann muss sie aber ausziehen, hoffentlich in eine nette WG“, sagt die 67-Jährige.
„Ich habe nur diese Eltern“
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„Mama und Papa“ – diesen Titel tragen Maria und Heinrich Höller für Maurice und Sandy, obwohl sie die beiden weder erzeugt noch adoptiert haben. „Ich habe nur diese Eltern“, sagt Maurice. Die „anderen“ seien seine Erzeuger. In den ersten Jahren pflegten Höllers noch hin und wieder Kontakt zur Herkunftsfamilie, bis sie irgendwann nicht mehr zu erreichen war. „Ich möchte die leibliche Mutter weder verurteilen noch stigmatisieren“, betont Frau Höller. „Ich glaube, dass keine Mutter ihrem Kind mit böser Absicht Schaden zufügt, sie war vermutlich selbst krank.“
Zudem trete FASD nicht nur bei Kindern von Frauen mit Alkoholsucht auf. „Es gibt einige Menschen, die noch ihren Wein beim Essen trinken, ohne zu wissen, dass sie bereits schwanger sind“, erklärt Herr Höller. Statt Schuldzuweisung sei hier Aufklärung der richtige Weg. „Reden wir die Mütter schlecht, werden sie sich eher verschließen, den Konsum nicht zugeben, wodurch die Kinder keine Chance auf eine frühe Diagnose und damit auf entsprechende Hilfen und Therapien haben“, ergänzt Frau Höller.
Maurice fehlen acht Jahre FASD-Behandlung, Sandy vier. Dass sie „irgendwie anders“ sind, wissen sie, dass es am Alkohol liegt auch. Ob sie deshalb sauer sind? „Nö, sonst wäre ich nicht bei Mama und Papa gelandet“, sagt Sandy bestimmt.
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