Essen. Alkohol in der Schwangerschaft: Das Kind trinkt mit und leidet lebenslang. Die Lebenshilfe Essen will Betroffene und ihre Familien unterstützen.

Sie können heute die Schuhe zubinden und haben es morgen vergessen, sie bekommen einen Wutanfall, weil der Lehrer nach den Hausaufgaben fragt, oder sie kommen zu spät zur Schule, weil sie lange gegrübelt haben, ob sie erst Zähne putzen oder vorher das Pausenbrot einpacken. Kinder mit FASD bringen Eltern an ihre Grenzen und erleben den Alltag oft als Stress, weil man ihnen ihr Handicap nicht ansieht und sie daher überfordert. „Die Welt ist eben voller Menschen, die FASD nicht kennen“, sagt Sozialarbeiterin Eva van Bühren von der Lebenshilfe Essen. Sie möchte nun Aufklärung leisten und gleichzeitig Betroffenen und ihren Familien helfen.

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Wenn Frauen in der Schwangerschaft Alkohol trinken, schädigt das ihr Kind, lebenslang. FASD ist ein Sammelbegriff für die Folgeerkrankungen, die unterschiedlich schwer ausfallen können, aber alle nicht heilbar sind, sondern nur gelindert werden können. Bei der Lebenshilfe haben van Bühren und ihre Kollegin Vanessa Voigt immer wieder das Leid der Familien gesehen – und ihre Ratlosigkeit. Mit dem im vergangenen Jahr gegründeten FASD-Zentrum wollen sie Betroffene informieren und stützen, mit Gesprächen, Therapien oder einem Schulbegleiter fürs Kind.

Denn die Schule ist der Ernstfall für die Kinder: „Manche fallen schon in der Kita auf, aber akut wird es, wenn Leistung gefragt wird“, erklärt Vanessa Voigt. Die Lern- und Merkfähigkeit der Kinder ist meist so eingeschränkt, dass sie den Stoff kaum aufnehmen, geschweige denn behalten können. „Sie sind aber oft recht redegewandt, Party-Talker, die Geschichten gut wiedergeben“, sagt Eva van Bühren. Weil das ihr Handicap überdeckt; unterstellt man ihnen Leistungsverweigerung. „Dabei nagt es selbst an ihnen, dass sie Dinge von Tag zu Tag so unterschiedlich bewältigen.“ Aus Verzweiflung toben, treten, weinen sie – für ihre Umwelt oft aus heiterem Himmel.

„Dinge fallen aus seinem Kopf“, sagt Noahs Großmutter

Nicht nur Lehrer missverstehen Schüler mit FASD, auch Mütter und Väter sind häufig ratlos. Zumal viele der Kinder bei Pflegeeltern aufwachsen, die nicht immer ihre Vorgeschichte kennen. Nur in schweren Fällen sieht man ihnen die Krankheit auch an. Für alle anderen kann die Diagnose eine Erlösung sein. So war es bei Maren Fiedler (45) und ihrer Frau Nele (64), die den heute 14 Jahre alten Noah aufziehen (alle Namen geändert).

Ihr Pflegesohn sei früh durch motorische und sprachliche Schwierigkeiten aufgefallen. Da er zudem unter Epilepsie leidet, wurde für den Schulbesuch ein Integrationshelfer bewilligt. Trotzdem klappte es nicht. Noah vergesse ständig, was er gelernt hat: Wie man eine Schleife macht, das Einmaleins oder alltägliche Worte. „Dinge fallen aus seinem Kopf“, sagt Nele Fiedler.

Sie und Maren Fiedler sind Heilpädagoginnen: „Mit normalen pädagogischen Mitteln sind wir nicht weitergekommen.“ Als Noah in die dritte Klasse kam, fragte eine Ärztin, ob seine leibliche Mutter in der Schwangerschaft Alkohol konsumiert habe. Nele Fiedler bejahte: Noah ist ihr leiblicher Enkel; und sie wusste, dass ihre Tochter getrunken hatte, als sie schwanger war.

Die Diagnose war erst ein Schock – dann sorgte sie für Erleichterung

Die Diagnose FASD sei erst ein Schock gewesen, sagt Maren Fiedler. „Und dann waren wir erleichtert – alle drei.“ Noah hatte ja gemerkt, dass er anders war als andere und nun gab es dafür eine Erklärung. Immer wieder habe er sich das Video „Max und das fetale Alkoholsyndrom“ angeschaut und gestaunt: „Der ist ja genau wie ich.“

An einer Puppe zeigt Eva van Bühren von der Lebenshilfe, typische Merkmale, die bei der ausgeprägten Form von FASD zu sehen sind: schmale Lidspalte, leichtes Schielen, vorstehende Nasenflügel, sehr schmale und gerade Oberlippe, fehlende Rinne zwischen Nase und Oberlippe.
An einer Puppe zeigt Eva van Bühren von der Lebenshilfe, typische Merkmale, die bei der ausgeprägten Form von FASD zu sehen sind: schmale Lidspalte, leichtes Schielen, vorstehende Nasenflügel, sehr schmale und gerade Oberlippe, fehlende Rinne zwischen Nase und Oberlippe. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Auch von den Frauen fiel Druck ab, nun da klar war, das Noah manche Dinge nicht lernen kann. Vorher hätten sie sich oft über ihn geärgert, schon mal geschimpft: „Hast Du überhaupt zugehört?“ Noah könne gut erzählen, da sei es nicht leicht, auf sein Handicap zu schließen. Auch die Lehrer hätten das nicht verstanden. Nun entschuldigten sich Nele und Maren Fiedler bei Noah und erklärten den Lehrern: „Er ist nicht faul, er ist nur überfordert.“ Seither werde er öfter gelobt.

Noah besucht die 7. Klasse einer Gesamtschule. Der Schulalltag, der Unmut, den er bei Lehrern oder Mitschülern auslöst, sind eine Strapaze für ihn. Homeschooling mit der ungeteilten Aufmerksamkeit des Integrationshelfers laufe besser. Auch Video-Chats mit Freunden sind für den 14-Jährigen ein gutes Format. Sonst ist Freizeitgestaltung für ihn herausfordernd: „Mit allen Nachbarskindern gibt es Ärger“, sagt Maren Fiedler. Er sei laut, habe ein eigenwilliges Sozialverhalten.

Von Judo bis Freiwillige Feuerwehr – nie durfte Noah lange bleiben

Noah lasse sich – wie viele Kinder mit FASD – leicht zu Unfug verführen oder provozieren. Wenn ihm in der Schule etwas auf den Boden fällt, sticheln die anderen: „Na, suchst Du Dein Niveau.“ Noah explodiere dann, obwohl er sonst gar nicht aggressiv sei. Kindern mit FASD werde viel Unrecht getan, sagt Maren Fiedler: „Er macht den ganzen Tag miese Erfahrungen.“

Noah hat viel probiert, von Judo bis Freiwillige Feuerwehr, doch lange konnte er nie bleiben. Fußball spielt er im Handicap-Team, aber mit zunehmendem Alter fühlt er sich dort nicht mehr wohl. „Er will halt normal sein“, sagt Maren Fiedler. Sie könnten ihn nicht nur behüten, müssten ihm auch mal etwas zutrauen: Noah kann kochen, gut mit Tieren und kleinen Kindern umgehen. Bloß laufen selbst einfachste Handgriffe bei ihm nie automatisch ab. So machte er wochenlang das Sonntagsfrühstück: „Plötzlich ging das nicht mehr, weil er die Reihenfolge vergessen hatte.“

Er habe auch keinerlei Zeitgefühl und breche zu spät zur Schule auf: Zähneputzen, Händewaschen, Epilepsie-Tabletten nehmen, tausendmal gemacht und doch muss er jeden Morgen daran erinnert werden. „Wir haben täglich Murmeltiertag.“

Sie geben ihm Nestwärme und Nachsicht – und brauchen viel Humor

Sie bezweifeln, dass Noah einen Schulabschluss oder einen Job im ersten Arbeitsmarkt erreichen kann. Sie möchten nur, dass er so alltagstauglich wird, dass er später ausziehen kann. Ideal wäre ein Wohnprojekt oder betreutes Wohnen, sagt Nele Fiedler. Noch sind sie sein Zuhause, kuscheln mit ihm, geben ihm Nestwärme und Nachsicht. Noah mag keine Überraschungen, auch wenn es positive sind: unerwarteter Besuch, spontaner Urlaub – undenkbar. Er kann ausflippen, wenn es statt des erhofften Schnitzels eine Bratwurst gibt. „Wir brauchen eine Menge Humor.“

Bei seiner leiblichen Mutter, zu der er Kontakt hat, könnte Noah auch heute nicht leben. Seit er vier ist, wohnt er bei seiner Oma und ihrer Frau. Sie haben ihre Arbeitszeit erst reduziert, ihr Leben um den Jungen herumgebaut. Seit Ende 2019 ist Nele Fiedler in Rente, Maren Fiedler ist im vierten Jahr in Sonderurlaub. Noah kann so früher aus der Betreuung heimkommen.

In der Selbsthilfegruppe sind sie mal nicht „die Außerirdischen“

„Wenn er mal nicht da ist, befassen wir uns mit Ämtern, Therapien, Papierkram.“ Die Selbsthilfegruppe der Lebenshilfe sei dabei eine enorme Entlastung. Außerdem tue es gut, nicht allein zu sein. „Hier wird man nicht angeguckt wie ein Außerirdischer, hier können wir offen reden.“ Sie hoffen, dass eine Jugendgruppe für Teenager mit FASD zustande kommt, wo Noah mal nicht der Exot ist – und ihnen ein paar Stunden Freizeit geschenkt werden.

Manchmal werde Noah wütend auf sein „Scheißleben“, und so wünschen sie ihm, dass er eines Tages glücklich wird. Er könne gut über Gefühle reden, brauche viel Zuwendung. Irgendwann haben sie eine Kerze gekauft mit dem Schriftzug: „Ich bin stolz auf Dich.“ Noah liebt diese Kerze: Er wisse ja, dass sie stolz auf ihn seien: „Aber wenn die Kerze brennt, sehe ich das auch.“

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