Gelsenkirchen. Lange war eine Gelsenkirchener Adoptivmutter ratlos, warum ihr Sohn eingeschränkt ist. Dann die Antwort: Es war der Alkoholkonsum seiner Mutter.

Tim Puffler ist 42 Jahre alt, und dass er eine gesetzliche Betreuung und viel Unterstützung benötigt, ist im Gespräch kaum vorstellbar. Und genau das hat ihm sehr lange das Leben extrem schwer gemacht. Tim Puffler leidet unter dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS), hervorgerufen durch Alkoholkonsum seiner leiblichen Mutter in der Schwangerschaft. Als der Gelsenkirchener diese Diagnose endlich bekam, war er bereits 32 Jahre alt. Für viele Fördermöglichkeiten im Kindesalter war es da zu spät. Um über die Erkrankung und die fatalen Folgen von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft aufzuklären, hat Tims Adoptivmutter Monika Reidegeld nun ein Buch geschrieben.

Gelsenkirchener mit FAS: Realschulabschluss, aber nicht alltagstauglich

Darin berichtet sie von den vielen Problemen, mit denen sie und ihr Sohn zu kämpfen hatten. Wegen der Einschränkungen, die der (beiden lange Zeit unbekannte) Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft Tim bescherte. Für die Adoptivmutter waren so viele seiner Probleme nicht erklärbar. Tim tat sich in der Schule, vor allem in Gruppen schwer – aber schaffte den Realschulabschluss. Er ist sprachlich gewandt, weiß sehr viel – und ist trotzdem ohne Unterstützung nicht in der Lage, seinen Alltag zu bewältigen.

„Genau das hat dazu geführt, dass ich oft zornig auf ihn war, wenn er eine Aufgabe nicht erledigt hat, sich um nichts kümmerte oder Dinge einfach vergaß: Weil ich nicht wusste, dass er es wirklich nicht kann. Das ist typisch für Menschen mit FAS, wie ich jetzt weiß. Und deshalb habe ich das Buch verfasst, um darüber aufzuklären“, erklärt Monika Reidegeld.

Sie hat noch einen weiteren Adoptivsohn einer anderen Frau großgezogen, hatte dadurch ständig den Vergleich in der Entwicklung ihrer Jungs vor Augen. Das FAS ist übrigens leider kein selten auftretendes Phänomen: 860.000 Menschen leiden allein in Deutschland an den Folgen von Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft, in sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Nicht allen gehe es so verhältnismäßig gut wie Tim, erklärt Reidegeld.

„Viele hielten ihn für faul, aber er war einfach überfordert“

Mit ihrem Buch über das Leben mit Tim und die fatalen Folgen des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft will Monika Reidegeld aufklären.
Mit ihrem Buch über das Leben mit Tim und die fatalen Folgen des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft will Monika Reidegeld aufklären. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

„Ich war oft ungerecht“, gesteht sie im Buch und der Leser ahnt, wie weh ihr das noch heute im Nachgang tut. Ebenso ungerecht wie Tims Umfeld, das ihn für faul, unverschämt und unwillig hielt. In Wirklichkeit war er überfordert und verzweifelt, hilflos, wie nun klar ist. Prioritäten sehen, sich fokussieren, sich strukturieren: Das kann er nicht.

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Tim ist ein freundlicher Mann, der die körperlichen Merkmale seiner unheilbaren Schädigung nun kennt, geschickt verbirgt. Sein Kopf ist ein wenig zu klein das Bändchen zwischen Nase und Oberlippe zu kurz, die Oberlippe schmal und konturlos: Der Bart kaschiert das. Untergewicht, Minderwuchs, geistige und motorische Entwicklungsverzögerungen, Verhaltensstörungen, organische Schäden, Skelettfehlbildungen – all das kann der Alkoholkonsum der Schwangeren auslösen. Und zwar nicht nur der Missbrauch im großen Stil.

Experte warnt: Dramatische Folgen auch bei nur einem einzigen Rausch in der Schwangerschaft

„,Ein lustiger Abend kann Kinder vom Gymnasium zur Hauptschule befördern’, hat uns Professor Spohr einmal gesagt. Also ein Vollrausch. Aber auch ein einziges Bier kann sich negativ auswirken“, erzählt Monika Reidegeld. Dr. Hans-Ludwig Spohr ist emeritierter Professor der Berliner Charité und Vorreiter im Bereich der Forschung zu FAS. Er verfasst auch das Vorwort zum Erfahrungsbericht der Mutter mit Kommentaren von Tim.

„Zu dem Buch wurde ich quasi aufgefordert. Bei den jährlichen Treffen des FAS-Vereins Deutschland in Fulda sagte man mir, dass man nun viel wisse über die Erkrankung aber was fehle, seien Erfahrungsberichte von Betroffenen. Und deshalb habe ich 2018 angefangen, meine, unsere Erfahrungen aufzuschreiben“, schildert Reidegeld. Was sie besonders ärgert, ist, dass sie wegen der viel zu späten Diagnose zahlreiche Unterstützungsmöglichkeiten für Tim nicht nutzen könnte. Frühe Förderung hätte ihm viele negative Erfahrungen erspart, und seine vorhandenen Talente besser fördern können.

Dass er diese Talente nun entdeckt hat und zum Teil auch nutzen kann, ist Tim natürlich wichtig. „Ich mache Improvisationstheater, ich fotografiere, ich arbeite in der Redaktion des Heftes der Sozialwerkstatt St. Georg mit. Das tut mir gut. Ich möchte nicht nur das Negative sehen, ich habe so viel kämpfen müssen“, betont er. Und Monika Reidegeld bestätigt: „Ja, dank dem Korsett für den Alltag, der Struktur, die das Sozialwerk ihm bietet, kann er das leben. Dafür sind wir dankbar.“

Seine leibliche Mutter hat Tim nur einmal gesehen, kurz vor seinem 18. Geburtstag, als er seine Diagnose und damit die Quelle seiner Probleme noch nicht kannte. Er wollte einfach seine Mutter kennenlernen, Kontakt aufnehmen. Doch sie war nur zu einem Treffen im Jugendamt bereit, danach ließ sie sich am Telefon stets verleugnen.

Tim lebt heute in einer eigenen Wohnung in Gelsenkirchen, Mutter Monika ist nach Recklinghausen gezogen. Ihrem Leben mit Tim und seiner Erkrankung hat sie nicht nur ein Buch, sondern auch eine Webseite gewidmet: www.fasd-wunschkind-tim.de.