Essen/Leipzig. Vanessa hat ADHS. Die Diagnose bekam sie, wie viele andere, erst als Erwachsene. Mit Videos auf Social Media macht sie auf das Thema aufmerksam.
Wenn Vanessa langweilig ist, hat sie Schmerzen. Als sie früher Vorlesungen besuchte, in die man als Studentin nur geht, um da zu sein, fühlte sie sich wie ein Tier im Käfig. Wollte einfach nur weg. Oder den Kopf auf den Tisch legen und schlafen und so der Langeweile entkommen. Das Gefühl kannte sie schon aus der Schule: „Da sitzt du acht Stunden und jeder sagt, das entscheidet deine Zukunft.“ Aber allen anderen schien das Sitzen, Aufpassen, Mitmachen leichter zu fallen als ihr.
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Vanessa hat ADHS, eine Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Das weiß sie aber erst, seit sie 20 ist. Vorher war sie einfach „ein bisschen anders“, hatte so ihre Probleme, die sie sich und ihr niemand erklären konnte. Die gebürtige Thüringerin lebt heute in Leipzig, arbeitet dort als Werbetexterin, teilweise freiberuflich. Sie hat ihre Art und Weise gefunden, um mit der ADHS klarzukommen. In Videos auf Instagram und TikTok teilt sie sie mit anderen.
Schon als Kind fühlte Vanessa sich „ein bisschen anders“
Als Vanessa klein war, konnte sie nicht einschlafen und wenn sie schlief, suchten die Alpträume sie heim. „Immer dieselben“, erzählt sie. „Mein Vater musste mir ein Walkie-Talkie kaufen, damit ich mich nicht alleine fühle.“ Schon damals war sie extrem geräuschempfindlich, viele kannten sie nur mit den Händen auf den Ohren. Mit zwölf brachte ihre Mutter sie zu einer Ärztin. „Ich war in meiner eigenen Welt versunken, auch meine Lehrer haben das mitbekommen.“ Der Psychologin musste sie immer vorspielen. Nicht auf dem Klavier, sondern mit Bauklötzen. Sie sei eine kreative Persönlichkeit, hieß es, die einfach alles etwas langsamer verarbeite. Der Rat der Expertin: „Das Kind muss an die frische Luft.“
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Also setzte ihre Mutter Vanessa aufs Fahrrad oder schickte sie spazieren. „Das hat auch ein bisschen geholfen, aber es natürlich nicht geheilt.“ Bis zum nächsten Besuch beim Arzt vergingen Jahre. Vanessa war zwanzig. Biologiestudium begonnen, den Drittversuch verhauen, exmatrikuliert. Mit dem Praktikum, das sie danach begann, fühlte sie sich heillos überfordert. „Es hat mir zwar sehr viel Spaß gemacht, aber ich war so unglaublich müde und habe nicht verstanden, wie Leute einen erwachsenen Job haben können.“ Der Hausarzt checkte ihre Blutwerte, alles unauffällig. Es könnte Burnout sein, aber wohl nicht bei einem Praktikum und sie sei ja noch viel zu jung für sowas. Schiefes Grinsen: „Vielleicht müssen Sie einfach mal durchschlafen.“
Neben diesem gut gemeinten Rat bekam sie vom Arzt eine Überweisung zur Psychiaterin. Schon nach dem zweiten Termin ordnete die einen ADHS-Test an. Gespräche, Fragebögen, Durchsicht der Schulzeugnisse. Dann endlich die Diagnose. „Ich bin rausgegangen und habe erstmal ein paar Tränchen verdrückt“, erinnert sich Vanessa. „Ich dachte: Juhu, ich bin nicht einfach nur dumm! Ich bin nicht seltsam.“ Sie hätte sich zur weiteren Behandlung um einen Therapieplatz kümmern müssen, aber „wie das bei ADHS so ist“, war der Rattenschwanz an Papierkram, Telefonaten, Terminen zu lang. Vanessa zog nach Leipzig, begann ein neues Studium, wieder vergingen die Jahre, auch ohne Therapie.
Therapie: „Habe mich zum ersten Mal verstanden gefühlt“
„Ich habe mich immer zeitweise mit dem Thema auseinandergesetzt, aber es auch oft verdrängt, weil ich dachte: Eine Therapie brauche ich nicht, es geht ja auch so.“ Dann, vor anderthalb Jahren, ging es plötzlich nicht mehr. Es passierte im Kino, der Film hatte Überlänge, alles war irgendwie zu laut und zu viel. „Ich habe aus dem Nichts eine Panikattacke bekommen“, erzählt Vanessa. Die hatte sie eigentlich nur in Phasen, in denen es ihr besonders schlecht ging. Nie einfach so. Sie bekam Angst vor der Angst. Was, wenn es wieder passiert? „Das ist wahnsinnig belastend und auslaugend.“ Mit einem Mal fielen ihr Dinge schwer, die vorher Spaß gemacht hatten: tanzen gehen, oder einkaufen. „Es war mir zu voll, zu laut – ab dem Zeitpunkt habe ich mich wieder in Therapie gegeben.“
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In der Behandlung fühlte sich die junge Frau zum ersten Mal verstanden. „Klar, deine Freunde und deine Familie versuchen auch, dich zu verstehen“, weiß sie. „Aber wenn der andere es nicht hat und sich nicht hineinversetzen kann, fühlt man sich alleine.“ In ihrer Therapeutin habe sie eine neutrale Person, die sie immer im gleichen Licht sehe. Jemanden, dem sie nicht leidtut und den sie nicht trösten muss, wie es manchmal bei Freunden oder Familie der Fall ist. Seit wenigen Monaten nimmt Vanessa Medikamente gegen ihre ADHS. „Mit den Tabletten kann ich in Meetings sitzen und nehme alles auf, habe eine stabilere Laune und kann früh aufstehen, ohne müde zu sein.“ Früher war das ihre größte Angst: müde sein. Weil die Müdigkeit „alles verstärkt“. Aber in die Erleichterung mischt sich Bedauern: „Ich denke schon darüber nach, was ich noch hätte reißen können, wenn ich das alles früher gewusst hätte.“
Betroffene leiden sehr unter Schamgefühlen
Eine ADHS belastet, auch in Beziehungen. Mit einem Partner zusammenzuziehen – auch davor hatte Vanessa Angst. „Alle sagen immer: Du musst einen Partner finden, mit dem du zu 100 Prozent du selber bist.“ Aber wenn sie es war, hat es keiner verstanden. Und irgendwann dachte sie: „Na gut, dann reichen auch 98 Prozent und die restlichen zwei lebe ich aus, wenn ich alleine in meiner Wohnung bin.“ Wenn sie abends von der Arbeit kommt, braucht sie Zeit für sich, will nicht angefasst werden. „Ich hatte immer das Gefühl, dass das bei mir extrem ist: Wenn mich jetzt jemand anfasst, muss ich weinen.“ So viele, so große Emotionen – „es dauert, bis man die in Worte fassen kann“.
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Was auch belastet, ist die Scham. Wenn man die Abgabe wieder versäumt hat, wenn man es nach einem langen Arbeitstag wieder nicht geschafft hat, die Bude aufzuräumen. Wenn man so ist, wie man eben ist, obwohl man sich doch so sehr anstrengt. „Das ganze Leben lang entschuldigt man sich. Weil man merkt: Man kann gerade so mit den anderen mithalten“, drückt Vanessa es aus. „Man entschuldigt sich so oft, dass man es irgendwann selbst glaubt: Du kannst froh sein, wenn überhaupt jemand mit dir Zeit verbringt.“ Für viele sei ADHS immer noch die Problemkind-Krankheit. „Die denken, dass es nur eine Entschuldigung ist, sich daneben zu benehmen, dass es sich verwächst ...“
Betroffene dreht ADHS-Videos für TikTok und Instagram
Tut es nicht, aber man kann lernen, damit umzugehen. Neben der Therapie und den Medikamenten hat die heute 27-Jährige noch einen anderen Weg gefunden. Im August 2022 startete sie ihren TikTok-Kanal @nessadhs. Ihr erstes Video hatte direkt 1,6 Millionen Aufrufe. Mittlerweile postet sie mehrmals in der Woche auf TikTok und Instagram. In ihren Videos spricht sie über „ADHS Struggles“, wie ständiges Zuspätkommen. Sie spielt sie sich selbst, Freunde und Familie, Arbeitgeber und WG-Mitbewohner, gibt Tipps zum Umgang mit ADHS, erklärt Verhaltensweisen, wie sie sie auch Außenstehenden erklären würde. Alles mit einer guten Portion Humor.
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Wie immer im Internet, finden das nicht alle gut. „Die einen sagen: Du verharmlost das. Ich kriege mein Leben nicht in den Griff und du machst Witze darüber“, erzählt Vanessa. „Und die anderen finden, ich verharmlose es nicht genug. Es gebe auch Leute, die trotz ADHS sehr gut klarkämen.“ Für beide Seiten hat die TikTokerin Verständnis. Der Kontakt mit ihrer Community ist für sie in erster Linie „hilfreich und schön“. Vor allem, weil sie den vielen Zuspruch nicht erwartet hätte. „Ich wende mich auch mit meinen eigenen Sorgen an die Community, zum Beispiel, wenn ich erzähle, dass ich Angst habe, mal Kinder zu haben.“ Dann bekomme sie ganz viele liebe Nachrichten, aber auch ehrliche, wo es heißt: „Ja, es ist chaotisch, aber ich liebe es trotzdem, weil ...“ Das macht Mut.
„Über ADHS reden ist keine Einbahnstraße“
Vanessas Videos ersetzen keine Diagnose, steht auch unter ihrem Profil. „Ich bin eine Frau im Internet, die es auch hat und den Leuten die Angst nehmen will, darüber zu sprechen.“ Es habe sie schon immer genervt, dass unsere Gesellschaft „neurotyp“ aufgebaut ist, also für Menschen ohne neurologische Auffälligkeiten. Über ADHS reden, so die junge Frau, ist keine Einbahnstraße. Beide Seiten haben eine Verantwortung: „Ob ADHS oder nicht, die Welt wird sich nicht nach dir richten. Als Mensch mit ADHS muss ich Wege finden, mit meinem Umfeld zu kommunizieren. Aber dann erwarte ich auch ein offenes Ohr.“
Der wertvollste Tipp, den sie jemals bekommen hat? „Akzeptieren, was man nicht ändern kann und durchziehen, was man sich vorgenommen hat. Und das auch selbstbewusst kommunizieren.“ Zum Beispiel bei Deadlines: Wenn die in vier Tagen ist und ein Teammitglied will die Aufgabe unbedingt vorher fertig haben, muss ich mich an den Plan halten, der für alle machbar ist. „Aber alle schließt mich auch mit ein.“
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