Essen. In Essen ist das einzige Gymnasium Deutschlands mit Tanzabitur. Über die harte Ausbildung – und wie junge Menschen mit Leistungsdruck umgehen.
Auf der Bühne des Aalto-Theaters tanzen, das Publikum begeistern, Teil der Essener Kompanie sein: Das ist Elisas „allergrößter Traum“. Damit dieser in Erfüllung geht, trainiert die 11-Jährige hart – viermal pro Woche, je 1,5 Stunden. Klassisch, Folklore und Improvisation stehen auf dem Stundenplan.
Elisa besucht die fünfte Klasse des Gymnasiums in Essen-Werden – das als einzige Schule Deutschlands ein Tanzabitur anbietet. Parallel zum normalen Unterricht absolvieren hier rund zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler eine Tanzausbildung, ab der Oberstufe können sie zusätzlich den Leistungskurs Tanz belegen. Doch bis zum Abitur ist es ein langer Weg. Was macht der hohe Leistungsdruck mit jungen Menschen? Und wie können sie lernen, damit umzugehen?
Vom „Baby-Ballett“ zum Tanzabitur in Essen
Elisa hat bereits als kleines Kind Ballettunterricht genommen, ganz nach dem Vorbild ihrer Mutter und ihrer Schwester. Ab der zweiten Klasse wurde ihr das „Baby-Ballett“ allerdings zu langweilig. Erst als der Wechsel von der Grundschule aufs Gymnasium anstand, entschied sie, wieder tanzen zu wollen und nahm an der Aufnahmeprüfung teil. Mit Erfolg.
Während sich die meisten Mitschülerinnen und Mitschüler nach der Schule zum Spielen verabreden, verbringt sie die Nachmittage im Tanzsaal – zusammen mit den 13 anderen Mädchen ihrer Stufe, die ebenfalls das Tanzabitur absolvieren.
Tanzabi in Essen: Freundinnen statt Konkurrentinnen
Für Elisa sind sie Freundinnen, keine Konkurrentinnen. Natürlich ärgere sie sich manchmal, wenn eine andere die Balance gut halten kann, während sie selbst noch etwas „rumwackelt“, erzählt sie: „Aber es ist ja normal, dass manche in Sachen besser sind, in denen du nicht so gut bist. Aber dann können die Sachen nicht so gut, die du kannst.“
So hat sie auch nicht das Gefühl, dass jede Übung, jede Choreographie direkt sitzen muss: „Klar musst du dich anstrengen, aber wenn mal etwas nicht so gut ist, ist das kein Weltuntergang. Das finde ich supertoll, weil man nicht die ganze Zeit darüber nachdenken muss: Bin ich noch perfekt genug zum Tanzen?“ Um abzuschalten, verbringt sie auch viel Zeit mit den Kindern in ihrer Klasse, die nicht tanzen. „Man kann mit ihnen auch mal über andere Dinge reden. Das ist ganz wichtig, damit man nicht nur ans Tanzen denkt“, erzählt sie.
Essener Expertin über hohen Leistungsdruck: Fehler müssen verzeihbar sein
Damit sind wichtige Voraussetzungen erfüllt, um mit dem hohen Leistungsdruck umzugehen, sagt Petra Kogelheide vom Jugendpsychologischen Institut in Essen. „Wenn ich gelernt habe, dass Fehler verzeihbar sind, dass man Ängste und Schwächen kommunizieren darf, dass die Sorgen ernst genommen werden, dann ist eine gute Grundlage gelegt, Stress und Druck bewältigen zu können.
Generell sei ein gewisses Maß an Druck zwar notwendig, um motiviert zu bleiben. Wird die Belastung jedoch zu hoch, hat das negative Auswirkungen auf „Körper, Psyche und Geist“, so die Expertin: „Gerade im Leistungssport verbinden Sportler ihre Selbstwertdefinition mit ihren Leistungen. Versagen kann zu psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Essstörungen führen.“
Ausgleich in der Freizeit schaffen
Eltern und Lehrkräfte sollten daher die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler stets im Blick haben und für einen angemessenen Ausgleich in der Freizeit sorgen. „Will ich weitermachen? Erfüllt mich mein Sport mit Glück? Macht mein Körper mit? Habe ich hier gute Freunde, unterstützen wir uns gegenseitig?“: All diese Fragen müssten sich die Kinder und Jugendlichen außerdem permanent selbst stellen.
„Solange die Waage in Richtung Leidenschaft, Stolz und Glück ausschlägt und der familiäre Rückhalt vorhanden ist, dürfte die Entscheidung klar sein und der Druck ertragen werden können“, so Kogelheide.
Essener Schüler: „Ich packe es einfach nicht“
„Mir wurde es manchmal zu viel. Da habe ich gedacht: Ich packe es einfach nicht“, sagt Francesco im Rückblick. Der 18-Jährige geht in die zwölfte Klasse, steht kurz vor dem Ende seiner schulischen Tanzausbildung. Eine schnelle Drehung nach rechts, dann ein Sprung nach links, die Füße dabei bis in die Zehenspitzen angespannt, den Oberkörper bloß nicht überdrehen: Francesco und sein Mitschüler Hannes sind zufrieden mit ihrer Choreographie.
Getanzt habe er eigentlich schon sein ganzes Leben lang, nur nie wirklich professionell, erzählt Francesco. Auf gut Glück bewarb er sich mit 13 Jahren für die Aufnahmeprüfung am Werdener Gymnasium. „Ich war mega aufgeregt. Es waren viele da, die supergut waren. Die Lehrerin, eine Französin, hat die ganze Zeit zu mir gesagt: ,Mon dieu. So schlimm’“, erinnert er sich. „Ich dachte, ich schaffe das niemals.“
Heimweh am Tanz-Internat
Noch am selben Tag erhielt er die Zusage. Kurz darauf zog er aus seinem Elternhaus in der Eifel aus – und im Essener Internat ein. „Der Umstieg war heftig“, sagt er. Anfangs fiel es ihm schwer, Schule und Training zu vereinen. „Und dazu noch das Heimweh. Ich vermisse meine Familie schon noch. Vor allem meinen Bruder und meinen kleinen Kater.“
Dass er für seine Tanzkarriere vieles zurückgelassen hat, bereut Francesco nicht. Er bereitet sich aktuell nicht nur auf das Abitur vor – für die Prüfung im Leistungskurs Tanz muss er sein tänzerisches Können unter Beweis stellen und eine schriftliche Prüfung bestehen – sondern auch für die Aufnahmeprüfungen verschiedener Unis.
Ein Tanzstudium wird ihm seinen Traum, irgendwann in einem professionellen Ensemble zu tanzen, noch einen großen Schritt näherbringen, hofft er: „Die Schule hat mich perfekt auf die Zukunft vorbereitet.“ Während sich Hannes nach dem gemeinsamen Training wieder umzieht, behält Francesco die Sportkleidung gleich an. Fünf Stunden Tanzunterricht stehen heute noch auf seinem Stundenplan.
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