Essen. Sie sparen viel und clever, um mit 45 Jahren in den Ruhestand gehen zu können: die Frugalisten. Doch ob die Rechnung auch aufgeht, ist fraglich.

Welches Internetportal bietet die billigste Reise? Welcher Supermarkt die attraktivsten Rabatte, welche Tankstelle das günstigste Benzin? Wer sparen will, stellt sich diese Fragen – gerade jetzt in wirtschaftlich schweren Zeiten mit einer Inflationsrate auf Rekordhoch.

Oder nicht?

Oliver Noelting ist bekennender Frugalist.
Oliver Noelting ist bekennender Frugalist. © epd | NANCY HEUSEL

Oliver Noelting lacht. Der 33-Jährige sitzt entspannt auf einem Baumstamm im hannoverschen Stadtwald Eilenriede in der Sonne. „Ich würde anders ansetzen“, sagt er. Sein Spar-Tipp: Die Logik des Konsums grundsätzlich hinterfragen. Manche Menschen kauften „wie auf Autopilot“ teure Reisen, Autos, Küchen, Fernseher, Handys in der Annahme, dass sich so ein glückliches Leben herstellen lasse, sagt der Softwareentwickler. „Ich dagegen glaube, dass es glücklich macht, Bequemlichkeit zu vermeiden, aktiv zu werden, Dinge selbst herzustellen, zu reparieren, Selbstwirksamkeit zu spüren.“ Noelting ist Frugalist. Frugal bedeutet „einfach, maßvoll“. Als Frugalisten bezeichnen sich Menschen, die genügsam leben und möglichst viel Einkommen zurücklegen, um früh in Rente zu gehen. Die Idee stammt aus den USA. Dort heißt das Prinzip „Fire“ (Financial Independence, Retire Early / Finanzielle Unabhängigkeit, frühe Rente). „Fire“ wurde seit 2010 populär. Die Faustregel: Die Menschen sparen 30 bis 80 Prozent ihres Einkommens und legen es in klug gewählte Investments an, um sich bereits mit 40 oder 45 Jahren zur Ruhe zu setzen und von ihrem passiven Einkommen zu leben. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Sparquote in Deutschland lag 2020 bei 16,3 Prozent.

Die Nische wird immer größer

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Frugalisten geht es oft nicht allein ums Sparen und um frühe finanzielle Unabhängigkeit; es geht auch um Konsumkritik und Sinnsuche. Ist Frugalismus also etwas für verschrobene Typen, die einem träumerischen Ideal nachhängen, dabei die Realität ausblenden? „Hippies mit Geld“, wie der Spiegel einmal titelte? Eine Sache für ein paar gesellschaftliche Aussteiger?

Mitnichten. Frugalismus ist ein veritabler Trend, der zwar eine Nische darstellt, die aber längst auch von renommierten Einrichtungen bedient wird. So finden sich im Internet zahlreiche „Frugalisten-Rechner“, wo man sich ausrechnen lassen kann, wie man mit seinem Gehalt so zurechtkommt, dass man frühzeitig in den Ruhestand wechseln kann. Portale locken mit Versprechen wie „So erreichst du finanzielle Freiheit“ oder werben mit „Anlagestrategien für Frugalisten“. Ratgeber-Bücher versprechen „Freiheit und Glück durch Frugalismus“ oder bieten „Frugalismus für Anfänger“. Auch Wirtschaftsteile seriöser Tageszeitungen und Finanzportale befassen sich mit dem Phänomen. „Was Frugalisten antreibt: Mit Geiz zum großen Glück“, analysierte unlängst beispielsweise die FAZ.

Oliver Noeltings Sparleidenschaft entbrannte 2013. Der drahtige Mann mit dem prägnanten schwarzen Dutt lebte damals in einer Studenten-WG in Bremen und fragte sich, wie sein Leben künftig aussehen sollte. 40 Jahre acht Stunden am Tag arbeiten? Attraktiv klang das in seinen Ohren nicht. Als er auf den Blog des kanadischen Finanzgurus „Mr. Money Mustache“ und die Fire-Bewegung stieß, war es um ihn geschehen. Hellauf begeistert begann er zu sparen. Zu seinen besten Zeiten lebte er von 750 Euro im Monat und erreichte damit eine Sparquote von mehr als 60 Prozent.

Auch die klassischen Geldinstitute haben erkannt, dass man den Frigalismus-Trend offenbar nicht ganz nicht ignorieren kann und geben ihren Kunden Ratschläge. So heißt es beispielsweise auf der Homepage des Sparkassenverbandes, wo hauseigene Experten Tipps zum Thema geben, warnend: „Geringverdiener können die Sparrate, die man benötigt, um mehr als zwanzig Jahre vor dem gesetzlichen Rentenalter in den Ruhestand zu gehen und bis ans Lebensende allein vom angesparten Vermögen zu leben, kaum erreichen.“ Oder: „„Frugalisten führen nicht nur während der Ansparphase ein sehr bescheidenes Leben, sondern rechnen meist auch für die Ruhestandsphase mit geringen Lebenshaltungskosten. Wer schon mit Mitte 30 aussteigt, muss möglicherweise mehr als 60 Jahre lang von seinem Vermögen leben können. Große Reisen oder kostenintensive Hobbys sind da nicht drin.“

Frugalist Noelting, der heute 24 Stunden pro Woche fest angestellt und nebenbei freiberuflich tätig ist, hat inzwischen eine dreijährige Tochter, das zweite Kind ist auf dem Weg. Eine größere Wohnung musste her, ein Krippenplatz, das Leben ist teurer geworden. Doch der Frugalist spart eisern weiter. 2021 habe er von seinen monatlich zur Verfügung stehenden 2300 Euro netto nur rund 1050 Euro monatlich ausgegeben, erzählt er. Das gesparte Geld fließt zu 20 Prozent auf ein Tagesgeldkonto und zu 80 Prozent in Investmentfonds, sogenannte ETFs. Insgesamt hat Noelting in neun Jahren 200.000 Euro gespart.

Sein Prinzip: „Wenn ich ein Bedürfnis oder Problem habe, frage ich nicht, wie die käufliche Lösung aussieht, sondern lese mich ein und probiere alles erst mal selbst.“ Noelting hat sich Aktienwissen angeeignet, er kocht Marmelade aus am Wegesrand gepflückten Brombeeren, siedet seine Seife selbst und kauft Möbel grundsätzlich gebraucht.

Als er eine neue Brille braucht, recherchiert er so lange, bis auch sein Optiker überzeugt war, dass vernünftige Gläser kein Vermögen kosten müssen. Seine Küche hat Noelting günstig gekauft und selbst aufgebaut. Kostenpunkt: 1000 Euro, inklusive Geschirrspüler. Den gab es geschenkt. Das Spülergebnis sei schlecht, hatte der Inserent geschrieben. Noelting entfernte eine Nuss in einer Leitung - und das Geschirr glänzte.

Für alle, die sparen wollen, hat Noelting einen Tipp. „Unbedingt Haushaltsbuch führen“, sagt er. Das sei eine „Achtsamkeitsübung für Finanzen“. Jede Ausgabe werde reflektiert und man könne eine Haltung zu der Frage entwickeln: War es das wert? Oder nur verschwendetes Geld? Unvernünftig sein, findet der IT-Profi, gehöre im Leben bei aller Sparsamkeit auch dazu. „Ich bin mal mit Freunden in der Kneipe versackt, das war teuer, aber das war es mir wert.“

Auch Prioritäten änderten sich im Laufe der Zeit. Ob er die Rente mit 40 oder 45 Jahren wirklich erreicht? Noelting zuckt mit den Schultern. Zurzeit sei es ihm wichtig, viel Zeit mit seiner Tochter zu verbringen. „Das bedeutet natürlich weniger Verdienst.“

Jungen Leuten empfiehlt der Frugalist, sich stets zuerst den Arbeitsplatz und erst dann die Wohnung zu suchen. „Das machen viele leider umgekehrt, aber Pendeln geht ordentlich ins Geld“, sagt er. Als Noelting mit seiner Lebensgefährtin nach Hannover kam, hat zuerst sie sich einen Job gesucht, dann er. „Als Softwareentwickler finde ich ja überall was.“ Das Paar landete im Stadtteil List, also suchten sie sich hier auch Wohnung und Kitaplatz. Der Vorteil: „Wir erreichen alles zu Fuß oder mit dem Rad“, sagt Noelting. Das sei gesund, umweltschonend, entspannend und natürlich spare es auch Geld - wesentlich mehr als es mit den zurzeit viel diskutierten Tankrabatte je möglich wäre.

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