Paul Schäfer verschleppte 1961 mehr als 200 Menschen nach Chile. NRW-Behörden wussten früh von den Plänen der Ausreise in die Colonia Dignidad.

Jedes der Opfer des Troisdorfer Baptistenpredigers Paul Schäfer erzählt seinen eigenen Alptraum. „Alle Kinder … durften nur auf dem Rücken liegen, die Hände daneben, nackt. Und dann wurdest du nachts mit Strom aus dem Schlaf gerissen. Da waren immer so Elektrogeräte, die haben die immer in die Genitalien reingehalten“, erinnert sich 2017 Georg Laube aus Gronau. „Es war noch in Heide. Schäfer wollte mich auf seinem Zimmer missbrauchen. Ich sah eine Pistole auf dem Nachttisch, die Bibel und ,Mein Kampf’. Die Türe war verschlossen“, berichtet 2018 Franz Heinrich Wagner aus Krefeld. „Schäfer kam in das Badezimmer, in dem sich die Mädchen wuschen und duschten. Er hatte eine Peitsche in der Hand. Damit schlug er vielen Mädchen den Rücken“, sagt ein junges Mädchen 1961 vor der Bonner Kripo aus.

Eine Schreckensherrschaft. Lügde. Bergisch-Gladbach. Wermelskirchen. NRW- Ermittler decken aktuell und in kurzen Abständen Sexualverbrechen an Kindern mit hohen Opferzahlen auf. Doch es sind nicht die ersten spektakulären Straftaten dieser Art in Nordrhein-Westfalen. Die Aussagen von Georg Laube, Franz Heinrich Wagner und dem Mädchen zeugen davon. Mehr als sechs Jahrzehnte zurück liegt der Fall der Colonia Dignidad. Paul Schäfer, Prediger, Sadist und Kinderschänder, errichtete nach 1956 in seiner angeblich religiös ausgerichteten Erziehungsanstalt im Rheinland eine Schreckensherrschaft. Insassen wurden als Sex- und Arbeitssklaven missbraucht, misshandelt, ausgebeutet. 1961, nach der Verschleppung von 65 Kindern und Jugendlichen aus dem Heim in Heide bei Bonn auf eine abgeschottete Farm in Chile, taufte Schäfer seine Einrichtung Colonia Dignidad – „Kolonie der Würde“. Die Verschleppten blieben eingesperrt, manche über Jahrzehnte. Andere ein Leben lang. Der Vorgang wurde mit zeitlicher Verzögerung zum weltweiten Skandal. Die New York Times schrieb vom „Concentration Camp“ – vom Konzentrationslager.

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Spuren im Archiv. Nach 60 Jahren liegt vieles im Dunkeln. Das gilt auch für die Anfangszeit in Heide. Was wussten staatliche Stellen? Hätten sie das Verbrechen, das der Experte Dieter Maier „die größte Massenentführung in der Geschichte der BRD“ nennt, verhindern können? Die Spurensuche führt ins Archiv des Rhein-Sieg-Kreises. Dokumente dort belegen: Schon ein halbes Jahr vor der Entführung erster Opfer nach Südamerika häuften sich Verdachtsberichte bei Behörden und Polizeidienststellen. Doch niemand hat die Auswanderung verhindert. Ein Behördenversagen. Der Vorwurf, den Colonia-Opfer Franz Heinrich Wagner 2018 erhob, geht darüber hinaus: „In Siegburg saßen alte Nazis in den Ämtern. Sie haben es ermöglicht, dass wir ohne Zustimmung unserer Eltern nach kurzer Zeit mit nach Chile mussten.“

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Die Feier. Im erzkonservativen Klima der Nachkriegszeit erfindet Paul Schäfer seine „Private Sociale Mission“. Hier sollen Kinder und Jugendliche, „Waisen“ und „schwer Erziehbare“, christlich-streng erzogen werden. Was Schäfer, der eher unscheinbare Mann mit dem Glasauge, verschweigt: Sein eigentliches Motiv ist wohl die Lustbefriedigung. Mehrfach hatten ihn Kirchen als Erzieher gefeuert - wegen seiner Übergriffe und seiner pädophiler Neigung. Doch die Täuschung gelingt. In der Franzhäuschenstraße in Lohmar-Heide wird Ende September 1960 das neue Erziehungsheim der Sekte eingeweiht. Unter den Festgästen ist Frau Dr. Friesecke vom Bundesfamilienministerium. Ihr Minister Franz-Josef Würmeling (CDU) schätzt die Arbeit des Missionsgründers. Zeitungen loben: „Schwierige Kinder werden aufgenommen. Sie sind kurze Zeit später schon gar nicht mehr schwierig.“

Nachbarn misstrauen der Sache. Ungewöhnlich finden sie, dass der Bau mit Zäunen, Sichtblenden und elektrischem Tor verriegelt ist. Insassen dürfen das Haus ohne Erlaubnis nicht verlassen, leben unter strengster Aufsicht. Dass Peitschenhiebe, Schläge und „Beichten“ üblich, Kontakte mit Eltern eingeschränkt und Beziehungen untereinander verboten sind? Draußen soll das so schnell keiner mitbekommen. Und heimlich denkt die Schäfer-Clique ohnehin an mehr.

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Blutig geschlagen. Schon im Sommer zuvor ist der Widerstand in der Gruppe gewachsen. „Im Sauerland bei einem so genannten Ferienurlaub der Sekte wurden wir blutig geschlagen. Da kam einer kleiner Junge zu mir. Er klagte mir sein Leid. Ich habe gesagt, er solle versuchen, das seinen Eltern zu melden“, wird Franz Heinrich Wagner später erzählen. In Gronau im Münsterland, dem Ursprungsort der Baptistengruppe, aus dem viele der Kinder stammen, landen solche Meldungen bei der örtlichen Polizei. Ermittler beginnen, sich für den Sektenchef zu interessieren. Schäfer erfährt davon. Sein Ausweg: die Flucht nach Chile. Den Bonner Botschafter des Landes kennt er gut. Die Kinder sollen folgen.

Ein erster Verdacht. Am 3. Dezember 1960 erscheint im Kölner Bundesverwaltungsamt ein Kurt Schnellenkamp. Er fragt nach „Bedingungen zur Auswanderung“. Dem Beamten Kleberg kommt das seltsam vor. Drei Tage später setzt Kleberg ein Warnschreiben an den Regierungspräsidenten auf. Es ist im Siegburger Archiv unter dem Aktenzeichen 267-02 (Sch) - 3413/60 abgelegt. „Betrifft.: Auswanderung nach Chile“. Spediteur Schnellenkamp habe von „ca. 30 Personen“ gesprochen, die mit auswandern wollten. „Dem hiesigen Amt erscheint das Vorhaben des Sch. nicht unbedenklich.“ Die Auswanderung drohe bald zu erfolgen. Das Bundesverwaltungsamt fürchte, „dass die Personen, die sich ihm anvertrauen, in ihrer Existenz gefährdet“ würden. Was die Beamten nicht ahnen: Schnellenkamp, ehemals bei der Waffen-SS, ist Vize im Verein Schäfers, gegen den zu diesem Zeitpunkt offenbar schon Vorermittlungen wegen Unzucht mit Abhängigen laufen.

Auf der Flucht. In den Aussagen wird Paul Schäfer konkret beschuldigt. „Ein Junge aus Gronau“ sei „bei einem zweimaligen Ferienaufenthalt im Sommer 1960 in Heide durch Sch. missbraucht worden“. Die Gerüchte darüber bringen Schäfer im Januar 1961 in eine zunehmend brenzlige Lage. Ob ihm Freunde in der Verwaltung Hinweise auf eine bevorstehende Verhaftung gegeben haben, wie es Franz Heinrich Wagner glaubt? Er habe so zwei Tage Zeit gewinnen und sich einen gefälschten Pass besorgen können. Tatsache ist: Der Sektenführer kann sich unbemerkt nach Chile absetzen.

Der Haftbefehl. Am 30. Januar 1961 wird die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Siegburg ergeht am 21. Februar. Am 23. Februar erscheinen Kripo-Beamte vor dem Missionshaus in Heide. Sie erfahren: Schäfer ist verschwunden. Aber mindestens 28 Kinder und 22 Jugendliche, vielleicht noch mehr, sind noch da. Die verbliebenen Sektenoberen wollen die Polizei nicht hineinlassen. Die Beamten besorgen sich deshalb einen erweiterten Beschluss. Dann aber nehmen sie „von einer Durchsuchung des Heimes Abstand“, heißt es in einem archivierten Vermerk.

Die NRW-Regierung greift ein. Der mutmaßliche Kinderschänder Schäfer ist in Chile für die deutsche Justiz nicht mehr greifbar. Mögliche Zeugen seiner Taten schon. Eine letzte Chance besteht, die kriminellen Handlungen zu stoppen. Was geht in der „Privaten Socialen Mission“ wirklich vor? Welches Schicksal könnte die in Heide eingesperrten Menschen nach einer Auswanderung nach Chile erwarten? Gibt es rechtliche Möglichkeiten, dies zu untersagen? All das wäre zu prüfen. Tatsächlich macht jetzt die Landesregierung Druck in diesem Sinn. Am 24. März will NRW-Innenminister Josef-Hermann Dufhues (CDU) wissen, „wer der Träger des Missionshauses Heide ist“ - und hat einen Verdacht: Dass „Anhänger der Sekte von der Gemeinschaft angehalten werden, in Bekanntenkreisen für Auswanderung evtl. nach Chile zu werben“. Der Minister erwartet vom Siegkreis und der Polizei dort eine Unterrichtung.

Die ersten Ausreisen. Unberührt davon geht im Juli eine erste Gruppe von Heiminsassen auf die Reise nach Südamerika. Niemand bremst den Tross. In Parral, 400 Kilometer südlich der chilenischen Hauptstadt Santiago, kauft Schäfer eine Farm. Die Jungen kommen mit dem Flugzeug, die Mädchen per Schiff. Die Sektenführung hat viele Eltern ausgetrickst, belogen und sich so Einwilligungen für die Ausreise und die Überlassung der Erziehungsrechte besorgt. Angeblich zeitlich begrenzt sei alles, für „Ausflüge“ nach Chile und für Ferien in Dänemark. In einem Brief eines entführten Kindes an die Mutter, den Amnesty zitiert, liest sich das anders: „Ich bin bereits auf hoher See. Wenn du in Zukunft keine Post mehr von mir bekommst, sieh das bitte als normal an. Es grüßt dich. Ruth“.

Alles gut? Die Verwaltung des Rhein-Sieg-Kreises schaltet ihr Jugendamt ein. Doch hilft das weiter? Fließen Aussagen des Mädchens über die Schläge in der Dusche ein? Erkundigt man sich nach den Ausreisepapieren? „Ein klares Bild“ der Vorgänge sei „schwer zu erhalten“, beklagt die örtliche Polizei - auch, weil die Sektenführung mauert. Dann zieht der Oberkreisdirektor am 4. Oktober 1961 die Bremse. Er schreibt: Er habe den Eindruck, dass die Missionshaus-Verwaltung „vorbildliche Gemeinschaftsarbeit“ leistet. Die Polizei habe „keine Bedenken“. Nachteile seien für die Betroffenen in Chile „nicht zu befürchten“. Dieser Bericht im Herbst 1961 bedeutet faktisch ein vorläufiges Ende der Untersuchungen gegen Schäfer und seine Kolonie.

Ein weltweiter Skandal. 230 Menschen, darunter bis zu 65 Minderjährige, wurden zwischen 1961 und 1963 aus Heide nach Chile umgesiedelt, schätzt Amnesty International 1977. Viele von ihnen haben ihre Eltern am Rhein und im Münsterland nie wiedergesehen. Die Bundeswehr kaufte das Heim in Heide für 900.000 D-Mark. Heute stehen hier Wohnungen. In Chile folterte, missbrauchte und misshandelte der Sektenführer nicht nur die eingesperrten Opfer aus Deutschland, sondern auch junge Chilenen. Er gab dem flüchtigen SS-Arzt Josef Mengele und dem Gaskammer-Erfinder Walther Rauff zeitweise Unterschlupf. Henker des chilenischen Diktators Pinochet konnten in den Kellern Regimegegner zu Tode foltern.

Schäfer wurde in Chile wegen der Verbrechen 2004 zu einer Haftstrafe verurteilt und starb 2010. Seine zurückgekehrten Komplizen lässt die NRW-Justiz bis heute ungeschoren, 2019 wurde ein letztes Verfahren in Krefeld eingestellt. 80 Opfer leben wieder in Deutschland, meist in Nordrhein-Westfalen. Ihnen wird ein mäßiger Schadenersatz gezahlt. Der Staat hat, nachdem sich der Bundestag rund 500 mal damit beschäftigt hat, in der Sache leise zu Fehlern und Versäumnissen bekannt. Ein erstes Mal.

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