Essen. Die Herrenhandtasche ist zurück. Was haben Jogginghosen und Klimawandel damit zu tun? Das verraten Carl Tillessen und Designer Thomas Rath.
- Herrenhandtaschen liegen in diesem Sommer im Trend.
- Man nennt sie auch "Murse", also male Purse.
- Carl Tillessen, Chefanalyst des Deutschen Mode-Instituts in Berlin, und Stardesigner Thomas Rath erklären, woher der Trend kommt, und ob jeder Mann eine Handtasche tragen kann.
Die Birkin-Bag, Monogramm-Handtaschen von Louis Vuitton, ikonische Totes von Gucci – allesamt Handtaschen mit Legendstatus, gar Wertanlagen, und allesamt: Damenhandtaschen. Doch das autokratische Selbstverständnis der Tasche für „Sie“ bröckelt – die Herrenhandtasche ist wieder da, gekommen um zu bleiben, und schickt sich an, bald Seit an Seit mit Clutches & Co. eine der lukrativsten Sparten der Modeindustrie zu regieren. Man trifft sie spät Abends am Bahnhof, um den Körper von jogginghosenbewehrten Männern geschlungen, man sieht sie in Kreuzberg, baumelnd am Handgelenk junger Kerle, die alte Geschlechterrollen abgeschüttelt haben. Aber warum ist das so? Und kann wirklich jeder Mann eine „Murse“ (male Purse) tragen? Carl Tillessen, Chefanalyst des Deutschen Mode-Instituts in Berlin, und Stardesigner Thomas Rath geben Antworten.
„Die Murse ist überfällig“, sagt Carl Tillessen ohne Umschweife. Als Chefanalyst kennt er sich ohnehin mit Trends aus, als preisgekrönter Designer hat er in der Vergangenheit direkt in der Branche mitgemischt. „Grundfalsch“ nennt er die Tatsache, dass es die Herrenhandtasche eine ganze Zeit lang gar nicht gab, „für Dinge wie das Portemonnaie, Schlüssel oder das Handy brauchen Männer genau so Stauraum wie Frauen.“ Dass der Siegeszug der Murse längst nicht mehr aufzuhalten ist, beweist Tillessen mit einem Blick in die USA: In den vergangenen drei Jahren ist der Absatz von Herren- und Unisexhandtaschen auf der anderen Seite des großen Teichs um knackige 700 Prozent gestiegen.
Die Jogginghose als Hebamme der Herrenhandtasche
Wie hat die Herrenhandtasche, die in ihrer 70er-Jahre-Variante als Schlaufentasche ums Handgelenk einen eher zweifelhaften Ruf genießt, dieses Comeback geschafft? „Der erste Reflex wäre, das an der heutigen Gender fluidity (Verschwimmen von Geschlechtergrenzen, Anm. d. Red.) und veränderten Rollenbildern festzumachen“, so Carl Tillessen, „aber dieser Reflex ist falsch.“ Es seien eben seltener diese genderfluiden Männer, die die Murse zur Schau tragen, sondern: „eher ein machohafter Männertyp.“
Mittlerweile gebe es eine „Generation, die in Jogginghosen großgeworden ist“, durch die Lockdowns der Pandemie habe sich die Stellung der Sporthosen als vollwertiges Stück Mode noch einmal gefestigt. „Menschen gehen in ihrer Jogginghose in die Schule, zur Arbeit oder zum Einkaufen, und haben festgestellt: Die elastischen Taschen einer Jogginghose kann man nicht so vollstopfen wie die einer Jeans – zumindest nicht, wenn es nicht unästhetisch aussehen soll.“
Was der Klimawandel mit der Murse zu tun hat
Auftritt: die Murse. Modestatement und Heilmittel für volle Taschen gleichermaßen, wenn auch in unterschiedlichen Ausführungen: Die „Machotypen“, erklärt der Analyst, trügen Bodybags, quer um den Oberkörper geschlungen, die genderfluiden Männer griffen auf Totes, also Tragetaschen zurück. Doch in beiden Fällen spiele auch das aufgebrochene Rollendenken mit, so Tillessen. „Die Herrenhandtasche galt lange als unmännlich, jetzt sind diese Rollenbilder obsolet. Das sieht man auch an dem anderen Zeitpunkt in der Modegeschichte, als die Herrenhandtasche populär war, den 70er Jahren. Damals gab es eine gewollte geschlechtliche Angleichung in der Mode: Männer mit langen Haaren und eben diesen ‘Handgelenksschleudern’ am Arm.“
Carl Tillessen sieht aber noch einen weiteren Grund für die Rückkehr der Murse, einen, der mittlerweile beinahe jeden Bereich des Lebens berührt: den Klimawandel. „Es ist viel öfter viel wärmer als früher, Herrenjacken mit vielen Taschen werden immer öfter überflüssig. Die Herrenhandtasche ist eine Lösung für dieses Problem.“ Auch deshalb ist Tillessen überzeugt, dass die Herrenhandtasche dieses Mal gekommen ist, um zu bleiben, „wie die Jogginghose. Die spannende Zukunftsfrage ist: Wird die Herrenhandtasche ein Statussymbol, wie es die Damenhandtasche bereits ist?“ Momentan deute sich das mit Modellen von Gucci und Louis Vuitton zwar an, doch der Markt sei noch klein. „Es kommt jetzt erstmal auf Funktionalität an.“
Schon Ötzi trug eine Murse
Designer Thomas Rath hat die Modewelt aus vielen Perspektiven betrachtet: als Modeschöpfer, als Juror bei Heidi Klums „Germany’s Next Topmodel“ und als Moderator von Modeshows im Fernsehen. Auch er macht die Rückkehr der Murse vor allem an ihrer Praktikabilität, aber auch an ihrem modischen Potenzial fest. „Die Männer von heute verstehen, dass eine Brieftasche in einer ausgebeulten Jeans nicht vorteilhaft aussieht und unpraktisch ist“, erklärt er, genau so habe sich die Herrenhandtasche aber auch als „modisches Herrenaccessoire durchgesetzt, gern auch Crossbody getragen, als sportive, lässige Variante.“
Dass die Murse nach ihrem kurzen Auftritt in den 70ern schon in den 80er Jahren wieder aus der Mode kam, will Thomas Rath nicht so recht einleuchten, „ich persönlich verstehe das nicht, da selbst der Ötzi vor über 5000 Jahren eine Man-Purse getragen hat.“ Und was Ötzi konnte, kann der Mann von heute ja wohl erst recht, oder nicht? „Definitiv kann jeder Mann eine Murse tragen“, versichert Thomas Rath, „wichtig ist, dass er es mit Überzeugung tut. Wenn man(n) modisch experimentierfreudig ist, dann kann man gerne zu den ausgefallenen und modischen Exemplaren greifen. Möchte man die Sache etwas ruhiger angehen, rate ich immer zu der klassischen Variante aus hochwertigem Leder.“
Revolution der individuellen Mode
Wie Carl Tillessen glaubt auch Thomas Rath, dass die Murse diesmal da ist, um zu bleiben. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Mode von dem Murse-Trend abrücken wird“, erklärt der Designer. „Der moderne Mann von heute hat verstanden, dass eine Man-Purse eine gute Alternative zu ausgestopften Hosentaschen ist, denn auch wir Männer haben einiges, das wir im Alltag benötigen.“ Eine ganz genau Trendprognose mag Rath nicht abgeben, „denn Gott sei Dank gibt es heutzutage kein Modediktat mehr und wir erleben eine Revolution der diversen und individuellen Mode.“ Die Königin ist tot, lang lebe die Murse.
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