Essen. In einer US-Stadt ist die Prügelstrafe an Schulen wieder erlaubt – auf Wunsch einiger Eltern. Warum ein Essener Familientherapeut das kritisiert.
Ohrfeigen, Maulschellen, Backpfeifen. Schläge mit dem Rohrstock, der Rute, dem Kochlöffel, dem Teppichklopfer. Letzterer wurde in dieser Funktion auch gern mal zum „Liebmacher“ ernannt.
Allein das sprachliche und instrumentelle Repertoire im Zusammenhang mit der Prügelstrafe zeugt von ihrer Alltäglichkeit in früheren Tagen, begleitet von geläufigen Redewendungen: „Wer nicht hören will, muss fühlen“ oder etwas pointierter „Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen“.
US-Kleinstadt in Missouri führt Prügelstrafe an Schule wieder ein
Seit vor einigen Tagen bekannt wurde, dass in der US-Kleinstadt Cassville im Bundesstaat Missouri die Prügelstrafe wieder eingeführt wird, ist diese längst vergessen gewähnte Form der Bestrafung vielen wieder ins Bewusstsein gerückt.
Dabei gilt die körperliche Züchtigung an Schulen selbst in den erzkonservativen Staaten im Mittleren Westen der USA oft als verpönt und gestrig. Dass in Cassville nun die Lehrer mit dem vorherigen Einverständnis der Eltern ein grobes Holzpaddel zücken und den Kindern Schläge aufs Gesäß geben dürfen – wenn auch als „allerletztes Mittel“ – dürfte bei den jüngeren Menschen hierzulande für irritiertes Kopfschütteln sorgen.
Prügelstrafe an deutschen Schulen war bis 1973 erlaubt
Bei der älteren Generation könnten allerdings auch wieder schreckliche Erinnerungen an die eigene Kindheit hochkommen – oder gar Traumata wieder geweckt werden. Denn wer heute im Rentenalter ist, hat höchstwahrscheinlich in der Schule auch noch die Züchtigung durch den Lehrer miterlebt und vielleicht auch erlitten.
In Deutschland sprach der Bundesgerichtshof Lehrern noch 1957 ein „generelles Gewohnheitsrecht“ zum Prügeln zu. Erst 1973 wurde in den meisten Bundesländern der Bundesrepublik die Prügelstrafe verboten, in Bayern schlugen die Lehrer gar bis 1983 weiter zu. Und erst im Jahr 2000 ist das Züchtigungsrecht in der Familie abgeschafft worden.
DDR sah Prügelstrafe als „Relikt inhumaner Disziplinierungsmethoden des NS-Regimes“
Damals wurde der § 1631 BGB geändert, seitdem heißt es dort: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Was im Umkehrschluss heißt: Zuvor war es den Eltern erlaubt, ihre Kinder nach eigenem Gutdünken zu züchtigen.
In der DDR war man nach dem Zweiten Weltkrieg bereits fortschrittlicher als in Westdeutschland. Im Osten wurde bereits 1949 die Prügelstrafe verboten, das gehörte zum antifaschistischen Selbstverständnis, sie galt dort als „Relikt inhumaner Disziplinierungsmethoden des NS-Regimes“, berichtet Dirk Schumann im Buch „Von der Kriegskultur zur Friedenskultur?“ aus dem Jahr 2000.
Schwarze Pädagogik: Kinder schlagen, um Sünden auszutreiben
Die Prügelstrafe hatte eine sehr lange Tradition, wie die Autorin Ingrid Müller-Münch in ihrem Sachbuch „Die geprügelte Generation“ beschreibt: „Martin Luther bezog sich immer darauf, dass es ganz wichtig wäre, ein Kind zu schlagen, sonst würde es mit Eigensinn völlig ausarten.
Diese sogenannte schwarze Pädagogik kam eben dadurch, dass seit Jahrhunderten immer wieder propagiert wurde, ein Kind wird sündig geboren, und man muss ihm diese Sünden austreiben, und zwar mit Gewalt.“
Familientherapeut aus Essen: Prügelstrafe kann zu Traumata führen
Aus heutiger, europäischer Sicht eigentlich eine undenkbare Einstellung, die aber noch gar nicht so lange zur Vergangenheit zählt. Reinert Hanswille (70), Leiter des Essener Instituts für Systemische Familientherapie, kann davon berichten: „Als ich zur Schule ging, gab es noch die Prügelstrafe. Und ich kenne Klienten, ältere Männer, die in der Schule richtig geprügelt wurden.
Viele Eltern sagen: Aber der Klaps auf den Po hat mir auch nicht geschadet! Aber man kann sagen: Der Klaps auf den Po vielleicht nicht. Aber wenn man mit einem Stock mal richtig durchgesohlt worden ist, dann ist man mit Pech dadurch traumatisiert – nicht jeder, aber doch einige. Und ich hatte einen Mann in Therapie, dem das in der Schule passiert ist – und der hat jetzt noch Narben.“
Essener Experte über Prügelstrafe: Das will ich nie mehr erleben
Und nicht nur aus indirekten Berichten kann Hanswille schöpfen: „Ich hatte einen Freund in meiner Schule, der aus Versehen eine große Glasscheibe zerbrochen hat. Der ist vor versammelter Schulmannschaft verprügelt worden, allein das ist ja schon beschämend. Aber er ist vom Rektor so geschlagen worden, dass der Zeigestock zerbrochen ist. Da denke ich: Das will ich nie mehr erleben“, sagt Hanswille noch hörbar gerührt.
Der pädagogische Effekt einer solchen Maßnahmen ist äußerst begrenzt, sagt der Familientherapeut: „Studien, die sozialpsychologisch orientiert sind, belegen, dass eine Verhaltensregulierung über Androhung von Gewalt der Regel nicht lange hält.“
Tatsächlich reagierten die Bestraften nicht durch eine nachhaltige Besserung des eigenen Verhaltens, sondern eher durch eine Ausweichstrategie: Man versucht verstärkt, sich beim nächsten Mal nicht erwischen zu lassen.
Familientherapeut aus Essen warnt: Gewalt durch Prügelstrafe kann ganzes Leben prägen
Darüber hinaus sind die Auswirkungen der erlebten Gewalt oft für das weitere Leben der Bestraften prägend, denn die traumatisierende Erfahrung führt oftmals zu einer merkwürdigen Form der Identifikation mit dem Prügelnden:
„Ich kann mich daran erinnern, dass es in meiner Klasse vor allem Jungs gab, die auf die Zähne gebissen haben, um nicht zu zeigen, wie schmerzhaft es war, wenn der Lehrer sie geschlagen hat. Die haben gesagt: ,Dir zeige ich‘s, du kannst mir ruhig mit dem Stock eins drüber geben, aber du wirst nicht sehen, dass ich hier anfange zu weinen.’
Essener Experte: Zusammenhang zwischen selbsterlebter Gewalt und ausgeübter Gewalt
Wenn so eine Haltung vorliegt, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass sie sich mit dem Täter identifizieren und später auch ein erhöhtes Aggressionspotenzial zeigen. Es gibt schon deutliche Hinweise in Studien, dass es einen engen Zusammenhang zwischen selbsterlebter Gewalt und ausgeübter Gewalt später gibt“, so Hanswille.
Es ist tatsächlich so, dass hier sogar ein unerwünschter Lerneffekt in Gang gesetzt wird: „Die Gefahr ist relativ groß, dass die Kinder sehen: Hier will jemand seine Macht über Prügel und Gewalt durchzusetzen – und dass sie dann in ihrem eigenen Lernkontext auch sagen: Ich muss nur gewalttätig sein, dann kriege ich das, was ich möchte“, analysiert der Therapeut.
Opfer von Missbrauch neigen mit höhrer Wahrscheinlichkeit selbst zum Missbrauch
Die Ausübung von Gewalt erscheint ihnen also als legitimes Mittel, ihre Interessen durchzusetzen. Womit ein Phänomen bestätigt wird, das Wissenschaftler im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch beobachtet haben: Wer selbst in seiner Kindheit ein Opfer von Missbrauch geworden ist, wird mit höherer Wahrscheinlichkeit selbst zum Missbrauch neigen.
„Psychologisch würde man sagen, dass das Kind sich mit dem Mächtigeren identifiziert – und dann später selbst diese Handlungen vornimmt“, sagt Hanswille. Oft wurde in der Vergangenheit die Prügelstrafe von Lehrkräften auch aus eigener Hilflosigkeit in einer Situation durchgesetzt.
Familientherapeut aus Essen kritisiert Prügelstrafe in den USA
Dabei gibt es pädagogisch viel zielgerichtetere Strategien. „Pädagogisch betrachtet ist es ideal, wenn man ein Kind davon überzeugen kann, dass es sinnvoll ist, sich von selbst in einer bestimmten Art und Weise zu verhalten, so Hanswille.
Eigentlich war man auch in den USA längst zu dieser Erkenntnis gekommen. Daher kann man nur hoffen, dass das aktuelle Prügel-Beispiel aus Missouri nicht Schule machen wird.