Gelsenkirchen. Die Teuerung bedeutet ein Drama für viele Geringverdiener und Rentner: Drei Menschen aus Gelsenkirchen berichten vom Abgleiten in die Armut.

„Die Leute gehen nicht mehr zum Friseur“, hat Gudrun Wischnewski festgestellt. Im Stadtteil sieht sie nun häufiger Damen mit Haarreif, mit Knoten, mit ungeschnittenen Haaren. Wischnewski leitet die Arbeiterwohlfahrt in Gelsenkirchen und Bottrop, sie achtet auf solche „Zeichen“. Im Supermarkt sieht sie, wie die Menschen vor der Kasse noch einmal ihre Cents zählen und dann einen Teil zurücklegen. Das Steak beim Discounter ist nun alarmgesichert. Und in ihren Beratungsstellen spürt die Awo einen großen Zulauf. Hier, in Gelsenkirchen-Rotthausen, treffen wir drei Menschen, die von der neuen Armut berichten.

Die alleinerziehende Mutter

Nachts schrubbt Frau L. in Industrieanlagen, reinigt zum Beispiel die Knetmaschinen in Großbäckereien, wird oft hundert Kilometer und mehr zu ihren Einsätzen gefahren – der Weg zählt jedoch nicht als Arbeitszeit. Das macht Frau L., seit sie 2014 als Witwe mit sieben Kindern von Rumänien nach Deutschland kam. Nachts und in der Frühe die Arbeit, tagsüber die Familie. Für 40 Stunden in der Woche bekommt sie etwa 1500 Euro netto im Monat. Zusammen mit dem Kindergeld, derzeit 1163 Euro für fünf Kinder, kam sie gut aus. „Ich habe jeden Tag eine Auswahl von drei Gerichten auf den Tisch stellen können.“

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Das Geld hat gereicht, um den Kindern auch mal Markenturnschuhe zu kaufen. Und um dem Ältesten den Führerschein zu schenken. Für ihren 18-Jährigen ist das nun keinesfalls mehr drin. Dabei würde der sofort als Paketbote arbeiten wollen. Schuhe kauft Frau L. seit diesem Jahr bei Aldi oder Lidl, immerhin noch neu, das ist ihr wichtig, damit sich die Kinder in der Schule nicht schämen müssen. Und mittags kocht Frau L. nur noch eine Mahlzeit für alle. „Ich kaufe nur noch die günstigsten Lebensmittel.“ Immerzu hält Frau L. nun Ausschau nach Aktionswaren am oder über dem Mindesthaltbarkeitsdatum. Das bedeutet auch: mehr Suppen, mehr Brot, mehr Nudeln. „Das Öl! Da kriegt man ja einen Schock.“ Und ja, sie spart auch beim Obst.

Ihre Tochter hat Glück, bekommt als einzige neue Kleidung, die Söhne müssen nun noch öfter die abgelegten der Brüder tragen. Die Mutter und sechs Kinder wohnen in einer schlecht isolierten Altbauwohnung in Rotthausen auf 84 Quadratmetern. Die Miete hat ihr Vermieter erst kürzlich um 60 Euro erhöht. Es sind nun 640 Euro warm plus 200 Euro Strom. Das ist bereits mehr als die Hälfte ihres verfügbaren Einkommens. Frau L. erwartet jedoch, dass sich die Kosten noch deutlich erhöhen werden, denn sie heizt mit Gas. Und heizen muss sie, wegen der Kinder. Heruntergeregelt hat sie bereits im vergangenen Winter. Was geht jetzt noch? „Vielleicht kann die Küche kalt bleiben.“

Die Senioren

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„Viele Ältere geben Armut nicht gern zu“, sagt Heinz-Günter Ivannek (73). Er ist Nachbarschaftsstifter in Gelsenkirchen-Rotthausen und kümmert sich vor allem um die Senioren. „Sie trauen sich nicht, zu Ämtern zu gehen, auch wenn sie Ansprüche hätten. Sie trauen sich auch nicht zur Tafel. Diese Menschen ziehen sich einfach zurück.“ Man sieht sie nicht mehr in den Vereinen, wo sie sich abmelden, um ein paar Euro zu sparen. Nicht mehr beim Bäcker, wo sie sonst einen Kaffee getrunken und Nachbarn getroffen haben. „Sie gehen nicht mehr so viel auf die Straße“, sagt Ivannek. „Und irgendwann fragt man auch schon gar nicht mehr nach ihnen. Sie werden vergessen.“

Eine Stiftung der Awo unterstützt Seniorenreisen. Doch die bekommt kaum noch Anträge. Vielleicht wegen des Eigenanteils von rund 500 Euro für zwei Wochen, wahrscheinlich aber auch, „weil die Menschen Angst haben, dass in der Gruppe auffällt, dass sie sich die Kugel Eis auf Norderney nicht leisten können“, sagt Gudrun Wischnewski. „Oft sind es Witwen. Wenn der Mann stirbt, haben sie plötzlich nur noch eine sehr kleine Rente. Altersarmut ist weiblich.“

Ivannek spricht von schlechter, ja von Mangelernährung: wenig Obst, Dosen, Fett und billiges Weißbrot. „Diese Menschen essen auch einfach weniger“, sagt Wischnewski. „Sie sehen offenbar keine andere Chance, als bei Kleidung und Lebensmitteln zu sparen.“

Eine Familie mit Arbeitslosengeld

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„Vor diesem Jahr haben wir uns keine Sorgen gemacht“, sagt Herr J. „Jetzt müssen wir Prioritäten setzen.“ Der 51-Jährige trägt Zeitungen aus, jedoch nicht in Vollzeit, er stockt mit dem Arbeitslosengeld II auf. Drei Kinder wohnen noch zu Hause. Herr M. hat versucht, ihnen zu erklären, warum es nun Schuhe vom Trödelmarkt sein müssen, warum der Sommerurlaub ausfällt, warum sie den Toast kalt essen und warum die Mikrowelle aus bleibt. „Und wir schlendern nicht mehr durch die Mall. Dann müssten wir immer etwas kaufen für die Kinder. Wir bleiben mehr zuhause. Aber dort schauen wir auch weniger Fernsehen, um Strom zu sparen.“

Auch Empfänger von Hartz-IV müssen die Stromkosten aus ihrem Regelsatz zahlen. Steigen diese, haben sie weniger Geld zum Leben. „Die Kinder verstehen nicht, warum sie nicht mehr bekommen können, was ihre Freunde haben“, sagt Herr J. . „Sie sind ein bisschen gestresst.“ Die Familie fährt längst nicht mehr mit dem Auto, „das ist schon eine große Veränderung“. Das 9-Euro-Ticket habe ihnen sehr geholfen, sagt J. – aber nun? „Die Awo bietet auch eine Fundgrube mit Kleidung aus zweiter Hand an. Aber Jugendliche in dem Alter nehmen lieber neue Schuhe von Lidl als gebrauchte an“, sagt Wischnewski. „Es gibt da eine große Hemmschwelle.“ Der Winter wird hart, sagt Herr J.: „Es werden Schulden entstehen – hundertprozentig.“

Was die Berater sagen

Es kommen mehr Menschen in die Begegnungsstätten, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Aber natürlich auch für Rat. „Man muss in jedem Einzelfall schauen“, sagt Wischnewski. „Es nutzt nichts, sich wegen Strom zu verschulden. Dadurch wird alles noch schlimmer.“ Besser man vereinbart Ratenzahlungen. Es gibt Stiftungen, die helfen, die Stromsparhelfer von der Caritas, Tipps wie man günstig und dennoch gesund einkauft. Dass man sich mit Nachbarn absprechen kann, wer kocht.“ Doch die harten Fakten bleiben. Selbst die Awo hat in ihren Seniorenwohnungen die Abschläge verdoppeln müssen.