Bochum. Moussa und Ibrahima sind vor vier Jahren aus ihrer Heimat Guinea geflohen. Ihre gefährliche Reise hat Elise Märkisch in einem Buch festgehalten.
Mit 15 Jahren erlebten Moussa und sein Bruder Ibrahima (*) zum ersten Mal ein Weihnachtsfest. Das war 2016. Knapp einen Monat zuvor waren die Zwillinge als unbegleitete Flüchtlinge aus Guinea in Westafrika im Ruhrgebiet gelandet. Zu Fuß, im Bus und Pick-up durch die Sahara, dann mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer und am Ende im Kofferraum flohen sie ohne Geld und Papiere. In eine aussichtsreiche Zukunft. Dafür durchquerten sie acht Länder und zwei Kontinente. Mit nichts als der Kleidung am Leib.
„Wenn man Träume hat, muss man dafür alles geben. Und immer den Kopf hochhalten, egal was passiert. So schafft man es irgendwann!“ Ein beeindruckender Satz, den Ibrahima (19) bei unserem Treffen in Bochum nicht einfach nur so daher sagt. Schon als 15-Jähriger hat er bewiesen, dass man mit Ausdauer und Mut seine Ziele erreichen kann. „Wir hatten immer diese Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa“, erklärt er. Für sie haben die Zwillinge alles gewagt. Und ihr Leben gleich mehrfach riskiert.
Zwillinge bastelten sich Spielsachen aus Müll
Die gefährliche Flucht der Brüder – aber auch das Leben in Armut davor – hat Elise Märkisch in einem Buch festgehalten. Mit Ehemann Jürgen hat die 56-jährige Bochumerin vor etwa drei Jahren ehrenamtlich die Vormundschaft von Ibrahima und Moussa übernommen. Das Paar hat den Jungen geholfen, im Ruhrgebiet Fuß zu fassen und sie freundschaftlich begleitet, wie auch die Sozialpädagogin Anika Peltzer. Die zwei Söhne der Märkischs, Leander (24) und Tristan (21), sind erwachsen. Glück für die Zwillinge aus Guinea. „Ohne Corona wäre das Buch nicht entstanden“, meint die Betriebswirtin. Während der Pandemie ruhte ihr Geschäft weitgehend, die Zeit wusste sie zu nutzen. „Hope – 9000 Kilometer auf der Flucht“ heißt die Geschichte, die jeder nachlesen kann.
Im Dorf Mamou in Westafrika, wo Ibrahima und Moussa 2001 geboren werden, begegnen sie von klein auf Armut und Elend. Ohne Lego, Playmobil, Handy oder Playstation wachsen sie in einer Wellblechhütte auf. „Das störte uns nicht, wir kannten es nicht anders“, sagen sie heute. Aus Müll basteln sie sich Spielsachen. Eine Sardinenbüchse wird zum Auto. Schon als Dreijährige sind sie tagsüber auf sich allein gestellt. Die Eltern müssen beide arbeiten. Es gibt weder Babysitter noch einen Kindergarten.
In der Koranschule kein Wort verstanden
Ab dem vierten Lebensjahr lernen Ibrahima und Moussa in der strengen Koranschule täglich Verse auf Arabisch auswendig. Auf Holzbrettern malen sie die komplizierten Schriftzeichen nach. Der Lehrer bestraft jeden Fehler mit Schlägen. Dabei verstehen sie kein Wort Arabisch. „Wir wiederholten nur sinnlose Wörter – für uns ohne jede Bedeutung.“ Mit sechs Jahren kommen die Zwillinge in die staatliche Schule. Hier stehen Mathe, Französisch, Erdkunde, Geschichte und Naturwissenschaften auf dem Stundenplan. Reiche Kinder werden bevorzugt, für Geld gibt es gute Noten. Ibrahima und Moussa sind arm. „Unser Leben war ein ewiger Kreislauf von sinnlosem Auswendiglernen, Prügeln, Hungern und Wasserholen“, beschreiben sie die Schulzeit. Ihren Vater Mohamed, Fotograf in einem Studio, sehen sie selten. Er stirbt an Aids, als die Zwillinge acht Jahre alt sind.
Ihre Heimat Guinea verlassen die Jungen 2016 als Waisen. Sie hält nichts mehr in dem Land. Denn kurz nach dem Vater erkrankte auch die Mutter an HIV. „Niemand in Mamou hätte je geglaubt, dass wir es so weit bringen würden“, sagt Ibrahima rückblickend. Nach der Flucht im Jahr 2016 finden die Jungen ein neues Zuhause in Bochum. Sie lernen Deutsch und besuchen eine Schule. 2019 legen die Zwillinge den Realschulabschluss ab. Damit ist ihre Erfolgsserie nicht zu Ende: Mittlerweile sind beide in der Berufsausbildung, zweites Lehrjahr. Ibrahima wird Industriemechaniker bei der Deutschen Bahn, Moussa Fachkraft für Lagerlogistik.
Geschwister verlassen als Waisen ihre Heimat
Touristen denken bei der Sahara an coole Jeep-Fahrten, Kamelreiten und Lagerfeuer im Luxuszelt. Was Ibrahima, Moussa und die anderen bitterarmen Flüchtenden in der Wüste durchmachen, ist die Hölle: Die Sahara ist einer der lebensfeindlichsten Orte der Erde. Über neun Millionen Quadratkilometer groß, entspricht ihre Fläche knapp der ganzen USA und misst etwa das 26-fache von Deutschland. Auf der Ladefläche eines Pick-ups fahren die Zwillinge aus Guinea mit etwa 30 anderen bei bis zu 50 Grad Celsius brütender Hitze stundenlang über staubige Pisten. Sie haben Kreislaufprobleme, Schwindel und Kopfschmerzen. „Unsere Zungen waren vor Durst geschwollen und klebten am Gaumen fest“, erinnern sie sich an diesen Teil ihrer beschwerlichen Reise ins gelobte Europa. Jeder Passagier hat einen Liter Wasser. Der ist schnell getrunken. Die Sonne brennt. „Mittags zogen wir die T-Shirts aus und wickelten sie zum Schutz um den Kopf.“
Mit nichts als Sand, Steinen und wenig Pflanzen bietet die Trockenwüste für Mensch und Tier kaum Lebensraum. Wer sich in der Sahara verirrt, ist verloren. Neben der Angst, dass Abdul, der Fahrer mit dem Kleinlaster die Route verliert, befürchten die Brüder, von der Ladefläche zu rutschen. „Dann ist man sofort tot oder man bleibt verletzt liegen. Das ist noch schlimmer, denn der Pick-up hält nicht an.“ Warum auch? Das Geld für die Fahrt nach Tripolis kassieren die Schleuser im Voraus. „Ein Menschenleben ist nichts wert. Die vielen Leichen, die wir während der Fahrt neben der Piste sahen, waren der Beweis“, fügt Ibrahima hinzu. Ein weiteres Risiko: von Polizisten auf dem Weg nach Libyen abgefangen und zurückgeschickt zu werden. Deshalb wählen die Konvois meist abgelegene Routen, die alten Karawanenwegen folgen. Einst transportierte man dort Gold und Sklaven.
Folter, Mord, Vergewaltigungen und Sklaverei
Die allergrößte Furcht jedoch haben Ibrahima und Moussa vor dem „dunklen, unheimlichen Wasser“. Ausgehungert und erschöpft nach dem Wüsten-Track erreichen sie die libysche Hauptstadt Tripolis. Dort tobt seit dem Sturz des Machthabers Gaddafi der Bürgerkrieg: Milizen und Armeen kämpfen gegeneinander – ein Land im Chaos. Mittendrin all jene, die größter Armut entfliehen wollen. Libyen ist das Transitland Nummer eins für Afrikaner und Migranten. Laut Statistik halten sich mehrere Hunderttausend Menschen aus anderen afrikanischen Staaten dort auf. Alle wollen nach Europa. Ein Teufelskreis, denn die Flüchtenden sind Verbrechen wie Folter, Mord, Vergewaltigungen und Sklaverei ausgesetzt, wie etwa die Menschenrechtsorganisation Amnesty International anmahnt. So haben viele Menschen über grausame Geschehnisse während ihrer Gefangenschaft in libyschen Lagern berichtet. Das ist Ibrahima und Moussa zum Glück erspart geblieben.
Mit rund 50 anderen bringt ein Schlepper die Geschwister aus dem Versteck in Tripolis in einen Kühlwagen gepfercht zum Hafen. „Es war so eng, dass wir dicht gedrängt auf der Erde saßen, und die Luft im Inneren war bereits beim Einsteigen stickig und heiß“, weiß Moussa bis heute. In der Nacht legt das Schlauchboot ab. Keiner der Passagiere kann schwimmen. Männer, Frauen und Kinder sitzen dicht an dicht. Ohne Sicherheitswesten. Die gibt es erst bei der glücklichen Rettung vor Sizilien. Mit einem Liter Milch als Proviant für die ungewisse Überfahrt kämpfen die Menschen an Bord rund 15 Stunden wie in einer Nussschale gegen Wind und Wellen. Sie müssen angsterfüllt das Gleichgewicht halten, ständig Wasser schöpfen und lernen, sich dem Schaukeln anzupassen. Noch heute erinnern sie sich an das kleine Flugzeug, das, wie ein Wunder, am Himmel auftaucht. „Wir winkten und schrien wie verrückt, das Boot wankte wieder gefährlich! Das Such-Flugzeug kam näher, wir konnten den Piloten erkennen: Er hielt den Daumen hoch. Wir heulten vor Erleichterung und fielen uns in Arme: Man hatte uns gefunden, Hilfe würde kommen.“
Endlos sei allen die Stunde vorgekommen, die sie warten, bis das Rettungsschiff eintrifft: die „Sea-Watch 2“. Die zivilen Seenothelfer im zentralen Mittelmeer des 2015 von Harald Höppner in Berlin gegründeten Vereins haben nach eigenen Angaben schon rund 40.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. 700 Aktivisten mit bislang vier Schiffen und zwei Flugzeugen. Es ist der 15. November 2016, als Ibrahima und Moussa in Italien an Land gehen. Sie stützen sich gegenseitig, sind sichtlich erschöpft an diesem wichtigen Tag. Der ist zugleich ihr 15. Geburtstag. Doch vor lauter Aufregung haben sie den damals vergessen. Nur eine Woche später sitzen sie vor dem Bochumer Hauptbahnhof. Ein Schlepper hatte sie im Kofferraum seines Pkw über Frankreich in die Bundesrepublik gebracht.
Als erstes sahen sie den Weihnachtsmann
„Das erste, was wir von Deutschland sahen, war eine riesengroße Figur mit einer roten Mütze, einem langen, weißen Bart und einem Sack voller Geschenke: der Weihnachtsmann“, erinnert das Buch an die Ankunft in Bochum. Das größte Geschenk für Ibrahima und Moussa ist ihr neues Leben im Revier. Die Hilfe, die man ihnen entgegenbringt, wissen sie zu schätzen. Nun wünschen sie sich nur noch eines: „Dass die Menschen in Europa verstehen, warum viele Afrikaner aus sicheren Herkunftsländern wie Guinea ihre Heimat verlassen.“ Das Buch, das sie mit Elise Märkisch geschrieben haben, ist ein Erklärungsversuch. Drei Klassen der Bochumer Nelson-Mandela-Realschule lesen es derzeit. So sind die Zwillinge nun Unterrichtsstoff an ihrer ehemaligen Schule.
Weihnachten 2016 in der Bochumer Wohngruppe werden die Guineer nie vergessen: Sie erleben das erste Mal, wie ein Tannenbaum geschmückt wird. Ibrahima bekommt einen Fußball. „Für mich? Für mich ganz alleine? Wirklich für mich?“, ruft er und küsst den Ball. Und Moussa? Der ist selig mit seinem Basketball, freut sich still und leise. „Corona ist eine Krankheit, die kommt und wird wieder gehen“, sagt der 19-Jährige heute, vier Jahre später. Vor dem Virus hat auch Ibrahima in Deutschland keine Angst. Nach allem, was die Brüder erlebt haben.
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