Essen. Fernsehlandschaft im Umbruch: Weil die Jungen lieber streamen, wirkt sich der neue Kampf um die Alten auf das Programm aus... Der große TV-Test!
Auf den ersten Blick scheint immer noch alles in Ordnung zu sein für das Fernsehen. In Zeiten von Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und Party-Verboten haben die Deutschen ihr TV-Gerät 2020 sogar so oft eingeschaltet wie seit Jahren nicht mehr. Doch es sind nur noch die Älteren, die der Flimmerkiste treu bleiben. Das führt dazu, dass die Fernsehlandschaft in Deutschland sich verändert, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die große TV-Analyse in der digitalen Sonntagsausgabe, dem E-Paper Ihrer Zeitung!
Natürlich gibt es Zahlen. Zum Beispiel die, dass die Altersgruppe der über 50-Jährigen im Jahresdurschnitt 2020 mehr als fünfeinhalb Stunden am Tag vor dem Fernseher saß. Bei den 14 bis 49-Jährigen waren es dagegen nur 137 Minuten. Was nicht zwangsläufig heißt, das diese Menschen weniger bewegte Bilder schauen. Sie schauen sie nur nicht mehr im linearen Fernsehen – also nicht mehr zu vorgegebenen Sendezeiten – und immer öfter auch nicht mehr bei den klassischen TV-Sendern. Sie streamen ihr Programm bei Netflix, Disney+ oder Amazon Prime Video. Wann sie wollen, wo sie wollen – und auf allen technischen Geräten, die ihnen zur Verfügung stehen.
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Problem für die Privaten
Für die deutschen Privatsender ist das längst ein echtes Problem. Weil sie jahrelang und weitaus stärker als die Öffentlichen-Rechtlichen vor allem auf junges Publikum gesetzt haben, haben sie mehr Zuschauer verloren. Um Werbeeinnahmen und Quoten wieder in die Höhe zu treiben, gehen Pro7/Sat1 und RTL samt seinen Schwestersendern zwar leicht unterschiedliche Wege, haben aber dasselbe Ziel. Mehr Relevanz. Nur wie? Hochwertige Sportrechte sind – wenn überhaupt noch im Angebot – kaum noch zu bezahlen und das Geld, das in Deutschland für eine Serie zur Verfügung steht, lässt Amazon wahrscheinlich gerade mal für den Catering-Dienst springen.
Regionales soll die Lösung sein
Deshalb setzen die Privaten im Land auf Formate, die die Streaming-Riesen bisher kaum oder gar nicht im Angebot haben. Er glaube, sagt etwa der Chef der Fernsehsender Pro7 und Sat.1, Daniel Rosemann, derzeit in vielen Interviews, dass lokale und für den deutschsprachigen Raum gemachte Shows, aber auch klassischer Journalismus „ein ganz klares Abgrenzungsmerkmal zu Streamern“ seien. „Das werden Netflix und Amazon niemals in der Güteklasse liefern können, wie es regionale Player machen können.“
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Während Sat1 in den vergangenen Wochen eher durch Skandale („Promis unter Palmen“, „Plötzlich arm, Plötzlich reich“) in die Schlagzeilen geriet, hat Rosemann seinen Worten bei Pro7 längst Taten folgen lassen. Mit „The Masked Singer“ hat er einen echten Erfolg gelandet, dem bald schon „The Masked Dancer“ folgen soll. Und mit Joko & Klaas hat er die zur Zeit wohl kreativsten Köpfe des Privatfernsehens in seinen Reihen. Die beiden weiteten unter anderem – anscheinend ganz im Sinne der Chefetage – nach ihrem Sieg in der Show „Joko & Klaas gegen Pro7“ die gewonnen 15 Minuten Sendezeit auf knapp sieben Stunden aus, um mit einer viel beachteten Doku auf die Missstände in der Pflege aufmerksam zu machen.
Sender setzt auf Politische Debatten
In Dokuformaten reflektiert der Sender schon länger politische Debatten. Zur Hauptsendezeit und durchaus erfolgreich, wie die Grimme Preis-Nominierung für Thilo Mischke und sein Produktion „Rechts. Deutsch. Radikal“ zeigt. Mischke war es auch, der gemeinsam mit Katja Bauerfeind das erste ausführliche Interview mit der frisch gekürten Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, führte. Gut, Fragen wie „Geht Ihnen der Arsch auf Grundeis?“ oder der Applaus für die Interviewte, führten zu starken Abzügen in der B-Note. Aber für solche Fragerunden gibt es in Zukunft ja Linda Zervakis und Matthias Opdenhövel, die Rosemann von der ARD für eine gemeinsame Sendung abgeworben hat. Außerdem will Pro7 damit beginnen, wieder eine eigene Nachrichtenredaktion aufzubauen, die dann alle Sender des Konzerns versorgen soll.
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Frischer Wind bei RTL
Auch bei RTL, 2011 mit 14,1 Prozent Anteil am gesamten Fernsehpublikum noch der erfolgreichste deutsche TV-Sender, weht ein neuer Wind. Der hat als erstes Dieter Bohlen aus dem Sender gefegt und Hape Kerkeling sowie Jan Hofer hineingeweht. Der eine soll in einer neuen Serie mitspielen, der andere einmal in der Woche eine Nachrichtensendung im Hauptabendprogramm bekommen und so das Angebot rund um „RTL Aktuell“ ausbauen. Genau wie das Format „Klima vor 8“, in dem – der Name sagt es schon – künftig regelmäßig klimarelevante Themen behandelt werden sollen. Im besten Fall gehen hochwertige Unterhaltung und journalistische Kompetenz sogar Hand in Hand, wie das von RTL (zunächst für den hauseigenen Streaming-Dienst TV Now) gedrehte Doku-Drama zum Wirecard-Skandal „Der große Fake“ gezeigt hat.
Ansonsten ist „Familiensender“ ein Wort, das derzeit häufig fällt im Zusammenhang mit RTL. Bjørn von Rimscha, Medienökonom von der Universität Mainz, hat das neulich in er SZ so eingeschätzt. „RTL scheint zu realisieren, dass es vergebene Liebesmüh ist, das lineare Fernsehen zu verjüngen.“ Junge Zuschauer würden „nicht mehr in großer Zahl nachwachsen“.
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Viel Jauch, kein Wendler
Wenn schon die Quote die Werbetreibenden nicht mehr lockt, dann doch wenigstens das Programm, in dem sie ihre Spots buchen können. Viel Jauch, kein Wendler, kein Pocher, kein Bohlen. Harmonisch, seriös und unterhaltsam. Ein Umfeld also, in das ein humortechnisch in den 90ern stehengebliebener, selbst ernannter Poptitan ungefähr so gut passt wie ein Veganer in die Metzgerei. Ein Umfeld aber, in dem die Generation 50+ erreicht wird – wenn sie nicht gerade ARD oder ZDF guckt. Im Jugendwahn der Privaten lange verschmäht, gelten die so genannten „Best Ager“ schon lange nicht mehr nur als Zielgruppe für Thrombosestrümpfe, sondern als Menschen, die das oft reichlich vorhandene Geld gerne auch für Technik, Reisen, Mode oder gutes Essen ausgeben.
Jörg Schönenborn, WDR-Programmdirektor Information, Fiktion und Unterhaltung, gibt sich noch gelassen angesichts der großen Pläne der Konkurrenz. Er freue sich auf einen „sportlichen Wettbewerb“ mit den Privatsendern im Bereich Information, sagt er. Der WDR und die ARD seien dort aber bereits stark aufgestellt – im Linearen, aber zunehmend auch mit sehr erfolgreichen digitalen Informationsangeboten.
Konkurrenz für Öffentlich-Rechtliche
Kein Grund zur Sorge also bei den Öffentlich-Rechtlichen? Mit milliardenschwerem Rundfunkbeitrag im Rücken und ohne echten Quotendruck kurzfristig wohl kaum. Auf lange Sicht aber könnte es zum Problem werden, wenn die Privatsender ihre Pläne erfolgreich umsetzen.
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„Public Value“ ist der Begriff, der ARD und ZDF vielleicht mal in Schwierigkeiten bringen könnte. Das ist – vereinfacht gesagt – der Nutzen oder auch Wert, den eine Institution, also auch ein TV Sender, für die Gesellschaft hat. Auf diesen Wert haben sich die öffentlich-rechtlichen Sender in der Vergangenheit gerne berufen, wenn es Diskussionen um den Rundfunkbeitrag gab. Den benötige man – wieder vereinfacht gesagt –, um die Qualität des Programms weiter so hoch zu halten. Eine Argumentation, die problematisch wird, wenn die Konkurrenz immer mehr hochwertige Nachrichten, Doku- und Infoformate anbietet, während das eigene Programm in den Hauptsendern verstärkt mit Schlagerfestivals, Krimis und Liebesfilmen gefüllt wird.
Wofür zahle ich eigentlich?
Schon jetzt haben vor allem Jüngere Probleme, das Konstrukt des Rundfunkbeitrages zu verstehen. Filme oder Serien gucken sie bei Netflix oder Amazon, Sport bei DAZN, Sky oder Magenta. Wenn Pro7 und RTL jetzt noch in Sachen Nachrichten und Information nachziehen, dürfte es schwierig werden, zu erklären, warum jeder Haushalt jeden Monat 17.50 Euro für etwas zahlen soll, das gar nicht genutzt wird.
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