Düsseldorf. Die wundersame Wandlung von NRW-SPD-Chef Thomas Kutschaty vom braven Regierungsnotar unter Hannelore Kraft zum linken Rebell gegen Armin Laschet.

SPD-Landtagsfraktionsvorsitzender Thomas Kutschaty (52) ist seit seiner Wahl zum Parteichef Anfang März die unumstrittene Nummer 1 der NRW-SPD. Dieser Karrieresprung grenzt fast an ein Wunder, weil einflussreiche Sozialdemokraten jahrelang an vielen Fäden gezogen haben, um den Aufstieg des Esseners zu verhindern. Kutschaty eckte in der eigenen Partei an, provozierte – und gewann trotzdem. Der „Rebell“ steht jetzt vor der wohl größten Herausforderung seiner politischen Laufbahn: Er soll eine Landespartei, die im Umfragetief steckt, zum Sieger machen.

Vergangene Woche im Münsterland: Rund 30 Parteimitglieder diskutieren per Videokonferenz mit Bundesumweltministerin Svenja Schulze und NRW-SPD-Chef Thomas Kutschaty. Es ist ein Querschnitt der sozialdemokratischen Basis: Krankenschwestern, Lehrer, Gewerkschafter. Sie hätten Grund zur Gelassenheit, denn zeitgleich leiden CDU und CSU im Führungsstreit zwischen Armin Laschet und Markus Söder. Dennoch verraten die Fragen der Genossen Besorgnis.

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Panik wegen schlechter Umfragewerte

Eine Dame treiben die schlechten Umfragewerte für die SPD um: „Vor vier Jahren konnte ich die Leute ganz gut von Martin Schulz überzeugen. Seitdem ernte ich Mitleid, zum Teil sogar Spott, und manche Leute fragen: Wie, da bist du Mitglied? Ich habe zunehmend das Gefühl, dass wir in der Öffentlichkeit zu wenig ernst genommen werden. Warum ist das so?“, will sie wissen. Ein anderer fragt: „Wie gewinnen wir die Nichtwähler zurück?“ Eine junge Frau wirft in die Runde, dass junge Menschen heute eher grün wählen als SPD.

Oben bieder, unten bissig: Thomas Kutschaty, Fraktionsvorsitzender der SPD im Düsseldorfer Landtag
Oben bieder, unten bissig: Thomas Kutschaty, Fraktionsvorsitzender der SPD im Düsseldorfer Landtag © Fotos: Ingo Otto / FUNKE Foto Services, Imago, Getty, Montage: Marcello mazza

Thomas Kutschaty ahnt in solchen Veranstaltungen, wie schwierig seine Aufgabe ist. Er muss einer irritierten und seit der verlorenen Landtagswahl 2017 an sich zweifelnden Partei Selbstbewusstsein einflößen. Er will eine mutige SPD, sagt er, eine, „die aus Hoffnungen Wirklichkeit macht“. Aus den Hoffnungen der Menschen und aus denen der SPD.

Kutschaty war nicht vorgesehen

Als Justizminister machte der Volljurist sieben Jahre lang im Kabinett von Hannelore Kraft einen grundsoliden Job. Skandalfrei, ohne großen Gegenwind, aber auch etwas unauffällig. Damals war kaum zu erahnen, dass in ihm der Ehrgeiz brannte, immer weiter nach vorne zu kommen. Und da sollte er auch gar nicht hin. Die frühere Parteielite um Norbert Römer und Michael Groschek setzte nach der verlorenen Wahl 2017 alles daran, um einen anderen – Marc Herter aus Hamm – zum SPD-Landtagsfraktionschef und später zur Nummer 1 in der Partei zu machen. Sie installierte mit Sebastian Hartmann sogar einen neuen und damals weitgehend unbekannten SPD-Landesvorsitzenden, um Kutschaty klein zu halten. Funktionierte nur nicht. Die Kampfabstimmung mit Herter um den Fraktionsvorsitz gewann Kutschaty. Vor wenigen Monaten verzichtete Hartmann nach langem Ringen mit dem Essener Rivalen auf die erneute Kandidatur. Der Weg zum Landesparteivorsitz war frei.

Trommeln, bis die Wände wackeln

Kutschatys Markenzeichen im Landtag: Eine harte, reviertypisch flapsige, manchmal sogar brachiale Rhetorik. Der Mann haut gern Sprüche raus wie „Sie irren durch die Asche ihrer verbrannten Ideen“ (zu Armin Laschet) oder „Sie sind nackt. Die Regierung wirkt wie ein einziger FKK-Strand, und wir müssen Ihnen leider gegenüberstehen“. Unterhaltsam ist das. Aber spricht so ein potenzieller Landesvater? Vom stets versöhnlichen Auftritt eines „Bruder Johannes“ Rau, dem Inbegriff des sozialdemokratischen Landesvaters, ist Kutschaty weit entfernt. Bisher ist sein Motto eher: Ein Oppositionsführer muss trommeln, bis die Wände wackeln.

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Aus dem leisen Minister wurde in der Opposition einer, der sich gleichzeitig mit der eigenen Parteielite in NRW anlegte und mit der mächtigen SPD-Bundestagsfraktion. „Warum mischt der sich ständig in unsere Angelegenheiten ein?“ Dieser Stoßseufzer war jahrelang zu hören, wenn SPD-Bundestagsabgeordnete auf Kutschaty angesprochen wurden. Der Rebell forderte den Ausstieg der SPD aus der Großen Koalition mit CDU und CSU und eine konsequente Abkehr von Hartz IV. Inzwischen wurde die Sozialstaatsreform von der Partei breit beschlossen.

Wer ist Thomas Kutschaty? Bis zum Herbst 2020 konnte diese Frage allenfalls oberflächlich mit „Jurist, Ex-Minister, Landtagsfraktionschef“ beantwortet werden. Der Mensch hinter den Ämtern bleib ein Unbekannter. Privatleben? Privatsache. Verheiratet mit der Stadtplanerin Christina Kutschaty, zwei Söhne, eine Tochter. Mehr drang nicht durch.

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Ende 2020, als er öffentlich erklärte, er wolle SPD-Landeschef werden, entschloss sich Kutschaty, seine private Geschichte zu erzählen, weil sie einer perfekten sozialdemokratischen Vita gleicht. Es ist die Geschichte vom Ruhrgebietskind aus kleinen Verhältnissen, das in der Ära Willy Brandt die Chance bekommt, sich Lebensträume zu erfüllen. Aufgewachsen in einer 2,5 Zimmer-Sozialwohnung in Essen – Dachgeschoss rechts in der dritten Etage, kein Kinderzimmer, kein Balkon, Kohleofen. Der Vater Eisenbahner, die Mutter Hausfrau. Kutschaty ist der Erste in seiner Familie, der Abitur macht. Er studiert Jura, wird Anwalt. Sozialer Aufstieg durch Fleiß, Talent, familiäre und politische Unterstützung. Das Aufstiegsversprechen gehörte zum Revier und zum SPD-Credo der 1970-er Jahre. Und dieses Bild eignet sich aus Kutschatys Sicht hervorragend für einen Schwenk hin zu den aktuellen Befürchtungen jener, die heute nicht in den feinen Quartieren leben. „Heute kann ich anhand der Postleitzahl eines Kindes mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorhersagen, welchen Bildungsabschluss dieses Kind machen wird.“

Kann auch anders: „Er sagt, was er denkt, ist unbequem und tritt anders auf als sein Vorgänger“, sagt zum Beispiel Ratsfrau Susanne Meyer über Kutschaty.
Kann auch anders: „Er sagt, was er denkt, ist unbequem und tritt anders auf als sein Vorgänger“, sagt zum Beispiel Ratsfrau Susanne Meyer über Kutschaty. © dpa | Christophe Gateau

Für die arbeitende Mitte

Der Jurist Kutschaty versteht seine Partei als „Anwältin aller Menschen, die nicht mit Vermögen und Privilegien auf die Welt gekommen sind“. Daraus ein Missfallen am Agenda-Kurs der SPD in der Schröder-Ära herauszulesen, ist legitim. In kommenden Wahlkämpfen will Kutschaty aber einen anderen Akzent setzen: „Wir sind die Partei der arbeitenden Mitte.“ Dazu zählt er ausdrücklich auch Selbstständige.

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Angesichts der jüngsten Umfragen – Infratest dimap sieht in einer Erhebung für den WDR die früher so stolze NRW-SPD bei der „Sonntagsfrage“ aktuell bei 18 Prozent – mutet eine Rechnung Kutschatys sehr gewagt an: Das Wählerpotenzial liege bei „bis zu 40 Prozent“. So viele Menschen könnten sich prinzipiell vorstellen, die SPD zu wählen. Zwischen Prinzip und Wirklichkeit klaffen im Moment Welten. Bei der Kommunalwahl 2020 fuhr die Essener SPD ausgerechnet unter ihrem Vorsitzenden Thomas Kutschaty mitten im Ruhrgebiet mit 24 Prozent eine krachende Niederlage ein. Der Landesparteichef muss daher einräumen: „Es gibt kaum eine Partei, die ihr Potenzial so mies ausschöpft wie wir.“ Die Grünen, die für Sozialdemokraten lange als natürlicher „kleiner“ Partner galten, schicken sich auch in NRW an, die SPD zu überholen. Und würden sich nicht scheuen, gegebenenfalls mit der CDU zusammen zu arbeiten.

Traditionelles Gericht mit grüner Würze

Kutschatys Rezept, mit der er die die SPD in NRW wieder nach vorn bringen will, mischt Traditionelles aus dem SPD-Kochbuch wie faire Löhne und bezahlbare Wohnungen mit grüner Würze wie Klimaschutz und Nachhaltigkeit — allerdings sozialdemokratisch angerichtet, damit am Ende nicht die kleinen Leute die ökologische Rechnung zahlen müssen. Der Parteichef erzählt oft von der Verkäuferin in Vollzeit, die im Schnitt 1890 Euro brutto im Monat verdiene und sich davon keine anständige Wohnung leisten könne. Verkäuferinnen, Pflegerinnen, Erzieherinnen – meist seien es Frauen, die das Land für kargen Lohn durch die Krise tragen.

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Kommt der neue Vorsitzende bei seinen Parteifreunden im Ruhrgebiet gut an? Eine spontane Umfrage in der Dortmunder SPD-Ratsfraktion legt das nahe, obwohl Dortmund seine Rivalität zu Essen zuweilen noch immer zelebriert. „Er sagt, was er denkt, ist unbequem und tritt anders auf als sein Vorgänger“, sagt zum Beispiel Ratsfrau Susanne Meyer über Kutschaty.

Ausgefahrene Ellenbogen

Dieser „Vorgänger“, der Bundestagabgeordnete Sebastian Hartmann (43) aus dem Rhein-Sieg-Kreis, der den größten SPD-Landesverband zweieinhalb Jahre lang führte, musste erfahren, dass sich Kutschaty auf seinem Weg nach oben nicht scheut, die Ellenbogen auszufahren. Der Machtkampf zwischen den beiden SPD-Granden ging mit Verletzungen einher, und Hartmann leistete lange Widerstand. Das ist aber schon wieder Schnee von gestern. Heute schaut die Öffentlichkeit gebannt auf das Ringen von Markus Söder und Armin Laschet.

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Die Videokonferenz der SPD im Münsterland streift das Thema CDU/CSU nur leicht und wendet sich den eigenen Aufgaben zu. „Wir sind sturmerprobt“, sagt Kutschaty zu der Genossin, die darunter leidet, als Parteimitglied zuweilen Spott und Mitleid zu ernten. „Sozialdemokraten mussten in der langen Geschichte der Partei viel miterleben, weil sie sich auch in schwierigen Zeiten zur SPD bekannt haben. Da kriege ich immer eine Gänsehaut.“

Der Erste mit Abi

  • Thomas Kutschaty stammt aus einer Eisenbahner-Familie aus dem Essener Norden und war der erste der Familie, der Abitur machte.
  • Nach dem Abi 1987 am Essener Gymnasium Borbeck und seinem Zivildienst studierte er an der Ruhr-Uni Bochum Rechtswissenschaft.
  • Von 1997 bis 2010 war er als Rechtsanwalt tätig.
  • Kutschaty ist verheiratet und hat drei Kinder.
  • Kutschaty ist seit 2005 Mitglied des Landtags von NRW. Von 2010 bis 2017 war er Justizminister des Landes.
  • Seit April 2018 ist er Vorsitzender der SPD-Fraktion und Oppositionsführer im Landtag von Nordrhein-Westfalen, seit dem 6. März 2021 auch Vorsitzender der nordrhein-westfälischen SPD.

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