Duisburg/Essen. „Wenn das da draußen endlich vorbei ist...“, stoßseufzen wir alle zwischen Lockdown und Lockerungen. Nur wird nach Corona wieder alles besser?

„Eine kleine Party hat noch niemanden umgebracht – also tanzen wir, bis wir umfallen!“

Warum Fitzgerald zitieren, wenn Fergie es so schön singt – meinen ja beide den großen Gatsby, den filmgewordenen Gesellschaftsroman über Ausschweifungen der Goldenen Zwanziger Jahre. Stresemann und Charleston-Kopfschmuck haben Sie sicher unlängst noch selbst im Fernsehen gesehen bei Babylon Berlin. 100 Jahre ist das nun her – und doch so aktuell: nicht die Mode, sondern vielmehr das Gefühl.

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„Wenn das da draußen endlich vorbei ist...“, stoßseufzen wir alle zwischen Lockdown und Lockerungen – und sehnen uns nach einem Jahr (und vielleicht noch einem) mit dem Virus nach dem alten Leben. Oder wird es nach Corona vielleicht sogar besser? Natürlich wird die Pandemie nicht an einem Tag X verschwinden, aber wenn alle alles nachholen wollen, auf was sie verzichten mussten, und das am besten noch gleichzeitig, erleben wir bald regelrechte Exzesse? Am ersten Schnee-Wochenende des Winters ebenso am ersten Sonnen-Wochenende des Frühjahrs jedenfalls gab es schon kein Halten mehr: Jederleut will am Leben teilhaben.

Wehe, wenn sie losgelassen?

Liebt das Leben und will wieder raus, teilnehmen: Sina Kunkel (35) aus Essen.
Liebt das Leben und will wieder raus, teilnehmen: Sina Kunkel (35) aus Essen. © Privat

„Es werden einige Schleusen aufgehen und Dämme brechen“, glaubt Sina Kunkel. Die 35-jährige Essenerin arbeitet im Online-Marketing und ist eine kleine Twitter-Berühmtheit. Auf ihrem Portal @Fridakelle konnte man verfolgen, wie la pura vida aussieht: Fernreisen, Festivals, Freundschaften. Und dann kam Covid! Seit nun einem Jahr ans Homeoffice gebunden, sagt sie: „Ich habe mich noch nie so auf den Frühling gefreut.“ Sogar das Fasten fällt dieses Jahr aus – „es gab doch sowieso schon so viel zu verzichten.“ Was ihr am meisten fehlt: das unbeschwerte, sorglose Leben. „Corona wabert immer schon sehr über allem. Was mir am allermeisten fehlt, ist diese Alltagsmagie.“ Freunde im Café zu treffen, das Kuchendate, das Feierabendbier, wer vermisst es nicht. Und auch, was die Influencerin als Erstes machen möchte, weiß sie schon: „Auf ein Konzert gehen, egal, wer und wo!“

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Moment, mit ganz vielen anderen zusammen feiern? „Da muss man ein gewisses Misstrauen wahrscheinlich erstmal überwinden, ob sich auch alle die Hände gewaschen haben“, lacht sie, „das sollte man wahrscheinlich aktiv ausblenden und nicht panisch zucken, wenn einem die Leute zu nah kommen.“

Und zum Fußball will Sina Kunkel auch unbedingt wieder. Also, grundsätzlich, vielleicht nicht sofort. Verständlich, als Schalke-Fan. Wirklich ein ganz schlimmes Jahr…

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Wirtschaftspsychologie und Konsumverhalten sind das Fachgebiet von Professor Oliver Büttner (45) von der Universität Duisburg-Essen. Glaubt er an die große Entfesselung der Gesellschaft nach Corona? Nach dem Maß das Übermaß? „Der Gedanke ist naheliegend und die Leute werden die Möglichkeiten auch wieder nutzen, was gut ist für Cafés, Theater und den Einzelhandel. Je nachdem, wie hedonistisch orientiert jemand ist, werden die Menschen auf der Suche nach Stimulation rausgehen und feiern.“

Auch Büttner ist das Menschliche nicht fremd: „Was glauben Sie, wie ich mich darauf freue, wieder in Bars und auf Konzerten rumzustehen.“ Aber, so sein Aber: „Wenn wir uns Exzesse vorstellen, überschätzen wir das.“ Und zwar gleich aus mehreren Gründen, weiß der Wissenschaftler: „Wir sind schlecht in emotionalen Voraussagen für die Zukunft, weil wir die Dauer und die Intensität dieser Gefühle überschätzen.“ Das galt schon mal grundsätzlich, so werde es aber auch bei Corona sein. „Erstens: Verstehe ich mich mit meinem Chef, gibt es Ärger ums Geld, Stress mit den Kindern? Diese Faktoren verschwinden ja nicht mit dem Virus, sie beeinflussen uns weiter – bloß blenden wir das beim Gedanken an das Danach gern aus und fokussieren nur auf diesen einen erhofften Effekt der wiedergewonnenen Freiheiten.“ Und zweitens? „Zweitens blenden wir bei solchen Vorhersagen doch ebenfalls aus, wie schnell wir uns an die Umstände gewöhnen. Das ist eine ganz zentrale menschliche Eigenschaft – man erlebt sowohl Positives als auch Negatives nach einer Weile nicht mehr so stark, das sieht man zum Beispiel auch im Lockdown.“

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„Wenn wir uns Exzesse vorstellen, überschätzen wir das“: Prof. Dr. Oliver Büttner (45), Fachgebiet Wirtschaftspsychologie und Konsumverhalten an der University Duisburg-Essen.
„Wenn wir uns Exzesse vorstellen, überschätzen wir das“: Prof. Dr. Oliver Büttner (45), Fachgebiet Wirtschaftspsychologie und Konsumverhalten an der University Duisburg-Essen. © UDE

Touché! Die Gehaltserhöhung, das neue Auto, solche Effekte verschleißen sich bald. Das dürfte dann auch den erhofften Glanz samt Gloria der Post-Pandemie betreffen. Was nachhaltiger wirke als das Instant-Highlife sind echte Erlebnisse. „Die nutzen sich nicht so schnell ab wie der Konsum von Produkten. Eine Urlaubsreise etwa hält länger vor. Da erinnert man sich immer wieder gerne dran, erzählt Freunden davon – und durchlebt es so immer wieder.“ Allerdings dürfte es bei jenen Traumzielen gleich wieder eine Einschränkung geben, wird der Professor zum Spielverderber. „Denn die Coronakrise hat die Klimakrise ja lediglich verdrängt.“

Reduktion wie weniger Fliegen sei ein nicht zu vernachlässigendes Thema. Nach dem ersten Lockdown, so verweist Büttner auf eine selbst initiierte Studie, wollten über die Hälfte der Befragten ihren Konsum auch nach der Pandemie einschränken. „Das werden aber inzwischen sicherlich weniger sein...“

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Die Goldenen Zwanziger: Wenn es nach Trendforscher Peter Wippermann (71) geht, der auch lange Professor für Kommunikationsdesign an der Folkwang Universität der Künste in Essen war, dann würde sich zumindest historisch ein Wiederaufleben des Wilden Jahrzehnts verbieten – als eine Zeit zwischen zwei Weltkriegen, zwischen Wirtschaftskrise und Börsencrash.

Überhaupt habe sich die heutige Gesellschaft verändert, weil sich die Arbeitswelt durch die Fusion mit der Freizeit in der Pandemiephase verändert hat. Wippermann: „Das Zuhause ist der neue Leitstand für Büro, Shopping und Entertainment – unterstützt durch die interaktiven Medien. Die Verlagerung des Alltags in die virtuelle Welt wird nicht mehr verschwinden, denken Sie nur an die Innovationen im Lebensmittelhandel wie Lieferdienste.“ Brauchen wir denn dann überhaupt keine anderen Wesen mehr? „Der Mensch bleibt ja ein soziales Wesen. Das Feiern, die Veranstaltungen, das alles bekommt ein wertvolleres Bewusstsein“, sagt der Trendsucher.

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„Das Feiern, die Veranstaltungen, das alles bekommt ein wertvolleres Bewusstsein“: Trendforscher Prof. Peter Wippermann (71).
„Das Feiern, die Veranstaltungen, das alles bekommt ein wertvolleres Bewusstsein“: Trendforscher Prof. Peter Wippermann (71). © Christian Vogel

Genau wie die gesellschaftlichen Herausforderungen der Zukunftsgestaltung „uns eben nicht abheben und alles vergessen lassen“ mit Blickpunkt Babylon. Bloß: Wo bleibt der Deinhard? „Die Champagnerlaune der alten Zwanziger ist eher einer Zufriedenheit gewichen“, so Wippermann. Immerhin: Das Gesparte, weil große Sprünge wie Urlaubsflüge so lange nicht drin sind, werde in exquisitere Ausgaben investiert – wie besseres Essen. Schlaraffenland statt Babylon.

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