Duisburg. Wie fühlt es sich an, wenn man sich für Kunstwerke begeistert, sie aber nicht sehen kann? Annalena Knors, fast blinde Museumsberaterin, weiß das.

Annalena Knors hat keine Berührungsängste. Mit beiden Händen umfasst sie den Kopf der Skulptur. Mit den Fingern gleitet sie über die glatte, kühle Oberfläche. Der tief nach vorne gebeugte Körper aus Metall hat es ihr angetan. „Das ist meine Lieblingsfigur“, sagt die 32-Jährige. Sehen kann sie die Bronze-Skulptur nicht. Annalena Knors ist nahezu blind. Sie hat eine fortschreitende Augenerkrankung.

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Den „Sitzenden Jüngling“ hat sie dennoch sofort wiedererkannt. So heißt die von Wilhelm Lehmbruck geschaffene Skulptur. Sie ist Teil der Dauerausstellung des Lehmbruck Museums und genau wie einige andere Exponate für blinde Menschen zum Ertasten freigegeben. Annalena Knors hat die Ausstellung schon viele Male besucht. 2012 war sie während ihres Studiums als Praktikantin im Lehmbruck Museum. Vier intensive Wochen, die sie darin bestärkten, nach dem Bachelor in Kulturwissenschaften noch ihren Master in Museumsmanagement zu machen. Seit drei Jahren arbeitet sie als freiberufliche Museumsberaterin. „Corporate Inclusion – ganzheitliches Teilhabe-Management“ ist ihr Thema und dabei geht es ihr längst nicht nur um blinde Museumsbesucher.

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Die Vision von einem Museum für alle: Annalena Knors ertastet im Duisburger Lehmbruck Museum blind Skulpturen des gleichnamigen Künstlers. Allerdings sind dies nur ausgesuchte Stücke. Die 32-Jährige hofft auf kulturelle Teilhabe für alle Eingeschränkten.
Die Vision von einem Museum für alle: Annalena Knors ertastet im Duisburger Lehmbruck Museum blind Skulpturen des gleichnamigen Künstlers. Allerdings sind dies nur ausgesuchte Stücke. Die 32-Jährige hofft auf kulturelle Teilhabe für alle Eingeschränkten. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„Museen wundern sich seit Jahrzehnten, dass ihr Publikum so homogen ist“, sagt die 32-Jährige. Wenn man sich aber anschaue, wie stark viele Museen potenzielle Besucher ausgrenzten, sei das wenig erstaunlich. Bauliche Barrieren sorgen dafür, dass Rollstuhlfahrer und ältere Menschen den Besuch scheuen. Fehlende Informationen auf der Website über Wickeltische oder Ähnliches verhindern, dass Familien mit kleinen Kindern einen Ausflug ins Museum planen. Audioguides, die nur in Deutsch erhältlich sind, machen einen Besuch für viele Kunstinteressierte mit ausländischen Wurzeln unattraktiv. Das Gleiche gilt für Menschen mit Einschränkungen wie einer Seh- oder Hörbehinderung, wenn auf ihre Bedürfnisse bei der Konzeption einer Ausstellung keine Rücksicht genommen wurde.

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Für die fehlenden Zugangsmöglichkeiten macht die Museumsberaterin vor allem zwei Faktoren verantwortlich: Unwissenheit und unflexible, behördenähnliche Strukturen in vielen Häusern. Dabei hat sich Deutschland bereits 2009 mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet, kulturelle Teilhabe für alle zu ermöglichen. Laut Annalena Knors sollten Museen aber auch aus reinem Eigennutz bestrebt sein, ihre Angebote für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich zu machen. „Museen konkurrieren mit anderen Freizeiteinrichtungen, nicht nur bei den Besuchern, sondern auch bei den Geldgebern und beim Personal“, erklärt sie. Letztlich gehe es also um ihre Existenz.

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Natürlich können Museen nicht von jetzt auf gleich allen gerecht werden. Die finanziellen und personellen Mittel sind begrenzt. Das weiß auch Annalena Knors. Zunächst einmal sei es aber wichtig, sich die Barrieren überhaupt bewusst zu machen, um sie dann nicht alle auf einmal aber eine nach der anderen abzubauen. „Wenn die Haltung stimmt, geht sehr viel, auch mit einem kleinen Budget“, sagt die Museumsberaterin. Ihren Kunden rät sie, die Bedürfnisse verschiedener Zielgruppen insbesondere dann mitzudenken, wenn etwas ohnehin verändert werden soll. Plant ein Museum beispielsweise einen Relaunch für seine Website, ist eine barrierefreie Schrift keine Kosten-, sondern eine Entscheidungsfrage. Laut Annalena Knors muss es auch nicht immer der ganz große Wurf sein. Natürlich freut sie sich als blinde Besucherin darüber, wenn es Audiobeschreibungen zu den Objekten gibt und diese auch noch mit einem taktilen Leitsystem gekoppelt sind. „Ein solches Leitsystem ist aber mit enormem Aufwand verbunden und wenn man sich dafür entscheidet, muss es auch wirklich gut und sicher sein“, sagt sie. Eine Alternative seien zum Beispiel Führungen für blinde Menschen mit geschultem Personal.

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Letztlich muss jedes Haus für sich die besten Lösungen finden. Hilfreich ist laut Annalena Knors, der Austausch mit Betroffenen. Was dieser bewirkt, zeigt sich im Lehmbruck Museum. Die Kunstvermittlerin Sybille Kastner präsentiert vier kleine Nachbildungen von Skulpturen aus der Dauerausstellung. Dabei handelt es sich um 3D-Drucke. Die Hochschule Niederrhein hat sie angefertigt. Den Impuls gab Annalena Knors.

Bei den kleinen Nachbildungen von Skulpturen aus der Dauerausstellung handelt es sich um 3D-Drucke.
Bei den kleinen Nachbildungen von Skulpturen aus der Dauerausstellung handelt es sich um 3D-Drucke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Mit den Modellen löst das Museum einen Interessenskonflikt. „Wenn eine Skulptur sehr häufig angefasst wird, nimmt sie Schaden“, erklärt die Kunstvermittlerin. Nur einzelne Exponate der Sammlung dürfen deshalb von blinden Besuchern ertastet werden. Sie sind alle aus Bronze, denn Metall ist weniger empfindlich als andere Materialien wie Gips oder Terrakotta. Für blinde Kunstliebhaber wie Annalena Knors bedeutet das aber, dass die zum Ertasten freigegebenen Objekte nicht in erster Linie aus künstlerischen Gründen ausgewählt wurden. Die Highlights einer Ausstellung werden ihnen oft vorenthalten. Das Gleiche gilt für Exponate, die nicht zur Sammlung des Museums gehören. Von Lynn Chadwicks zuletzt im Lehmbruck Museum gezeigten „Biestern der Zeit“ durfte Annalena Knors beispielsweise keines anfassen.

„Ich kann nachvollziehen, dass das für Museen schwierig ist“, sagt Annalena Knors. Einfach akzeptieren, dass einige Besucher die Kunst nicht erleben können, ist für sie aber keine Option. Sie wünscht sich kreative Lösungen und freut sich deshalb umso mehr über die 3D-Drucke im Lehmbruck Museum. „Wahnsinn, wie filigran die geworden sind“, schwärmt sie. In den Händen hält sie eine kniende weibliche Gestalt. Wer weiß, vielleicht hat Annalena Knors bald eine neue Lieblingsfigur in der Ausstellung. Immerhin gilt das Original, die „Kniende“, als „Mona Lisa des 20. Jahrhunderts“.