Hattingen. Bei einer Stadtführungen durch Hattingen kann man kontroverse Penisse sehen, einen mysteriösen Würfel suchen – und den Bürgermeister bemitleiden.
In Hattingen, wo ein schiefer Kirchturm die Fachwerkhäuser der Altstadt überragt und ein Museum aussieht wie ein Bügeleisen, kann man Kunst auf offener Straße betrachten. Künstler haben die fünf alten Stadttore zu Kunstwerken umgebaut, Gassen führen entlang der Stadtmauer und drei Männer aus Eisen mit markanten Penissen begrüßen Autofahrer, die sich der Ruhrstadt nähern. Lars Friedrich, 52, ist hier aufgewachsen. Er ist zweifacher Familienvater und Vorsitzender des Heimatvereins, dessen Sitz das Bügeleisenhaus ist.
Seit zwölf Jahren bietet er schon Stadtführungen an. „Wir haben etwa 50 Kunstwerke im öffentlichen Raum in Hattingen verteilt“, sagt er. An einem warmen Spätsommertag zeigt er uns die Werke. Friedrich hat kurze graue Haare, spricht quasi druckreif und betont häufig das letzte Wort eines Satzes. Man hört seiner ruhigen Stimme gerne zu. Kaum einer kennt die Stadt so gut wie er. Viele grüßen ihn auf der Straße. Er weiß, dass sich unterm Dach eines hohen Hauses auf der Einkaufsstraße ein ehemaliges Kino versteckt und von innen noch so aussieht, wie es 1956 erbaut wurde. Einmal im Jahr zeigt er es Besuchern.
Ein paar Häuser weiter steht das „Braune Haus“, während des Zweiten Weltkriegs das Büro der NSDAP. „Heute ist da eine Dönerbude und ein Hanfgeschäft“, sagt Friedrich und grinst. Er bietet Stadtführungen zu verschiedenen Schwerpunkten an, etwa: „Hattingen und der Nationalsozialismus“, „Hattingens starke Frauen“, oder „Barrierefrei und entschleunigt“.
Hattingen: Bei einer Stadtführung kann man Kunst unter freiem Himmel genießen
Sein Lieblingskunstwerk ist aber der Würfel. „Den findet kaum jemand“, sagt er. Und wirklich, wenn man nicht weiß, wo er hängt, läuft man ziemlich sicher drunter her. Zwischen zwei dicht beieinander stehenden Fachwerkhäusern, eines davon das Alte Rathaus, klemmt er schräg in der Nische. Der Stahlwürfel ist aus zwölf Streben gefertigt, hat keine Seiten. Der Klever Künstler Günther Zins hat ihn gefertigt und 1995 zur Wiedereröffnung des Alten Rathauses in Hattingen ausgestellt. Später schenkte er ihn der Stadt. „Ich finde den Kontrast zwischen den schiefen Balken der Fachwerkhäuser und den geraden Stangen des Würfels völlig faszinierend“, sagt Friedrich. „Auch der Bruch – Holzbalken und Stahl – ist sehr schön.“
Ein paar Straßen weiter steht das Neue Rathaus von 1910. Davor haben Bürger einen öffentlichen Garten angelegt, darauf wachsen Getreide, Kartoffeln und Sonnenblumen. „Ein Hotspot mit allerlei Naschwerk für die Bienenvölker, die auf dem Rathaus leben.“
Auf der Wiese vorm Rathaus sieht man den Stadtpatron, St. Georg, wie er vom Pferd aus mit einem Speer einen Drachen tötet. Der Sockel der Bronzeskulptur ist ein fünfeinhalb Tonnen schwerer Gießtrichter der Henrichshütte, in der bis 1987 Roheisen produziert wurde. „Das Schöne ist, dass St. Georg mit dem Pferd in die Stadt hineinschaut“, sagt Friedrich und zeigt auf das offene Fenster im Büro des Bürgermeisters, „wenn der rausguckt, sieht er nur den Po vom Pferd.“
Narben des Nationalsozialismus
Auf dem Weg in die Altstadt kommt Friedrich an einem Haus vorbei, in dessen Fassade seit 1939 das Hitler-Zitat in Holz geritzt ist: „Wer leben will, der kämpfe also, und wer nicht streiten will in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient das Leben nicht.“ Die Stadt lehnte lange Zeit ab, diese Worte aus Hitlers Propagandaschrift „Mein Kampf“ einzuordnen. Deren Argument: Der Balken, auf dem das Zitat steht, ist geschwärzt und damit nur schwer lesbar. Friedrich wollte das nicht hinnehmen und erkämpfte, dass die Stadt eine Info-Tafel errichtete. „Leider wurde sie in ein Gebüsch gebaut, so dass Leute sie kaum wahrnehmen können.“
Kurz bevor Friedrich die drei nackten Männer besucht, erklärt er, warum der Turm der evangelischen St.-Georgs-Kirche schief ist. Eine Variante: Wenn der Turm durch einen Sturm einstürzte, krachte er nicht auf die Kirche, sondern auf die Wohnhäuser. Besser die Häuser gehen kaputt als die Kirche – schon allein, weil es viel schwieriger ist, eine Kirche zu reparieren.
Penisse der Eisenmänner lösten Sturm der Entrüstung aus
Eine weitere, nicht so ernst gemeinte Erklärung ist: Der Turm begradigt sich erst wieder, wenn wieder eine Jungfrau heiratet. Was man sich halt früher so erzählte. Oder: Dahinter steckt die Rache des Zimmermanns, der zu schlecht bezahlt wurde... Warum sich der Kirchturm tatsächlich krümmt, ist nicht ganz klar. Wahrscheinlich haben die Erbauer noch feuchtes Holz verwendet. Holz dehnt sich in die Richtung, wo es trocken ist. Und weil vom Westen oft der Wind bläst und die meiste Sonne scheint, verzog sich der Turm in diese Richtung. Diese Theorie unterstützt Friedrich.
Dann erreichen wir die drei nackten Eisenmänner, nahe des Busbahnhofs an der historische Stadtmauer. „Heute findet man die schön, früher waren die ein No-Go“, sagt Friedrich und streicht über das massive, braun-glänzende Bein einer der 2,40 Meter hohen Skulpturen.
Sie lösten eine Welle des Protests aus, als sie der polnische Bildhauer Zbigniew Fraczkiewicz vor etwa 20 Jahren nach Hattingen brachte. Die entblößten Körper bekleideten Unbekannte mit Hosen und Hemden und schlugen den Männern die Penisse ab. „Man sieht es daran, dass die Geschlechtsteile neuer aussehen, sie mussten oft ersetzt werden.“ Friedrich findet, die Männer stehen stellvertretend für Hattingen. Sie sind aus Eisen – und Eisen war wegen der Henrichshütte Jahrzehnte prägend für seine Stadt. Im Herbst kommen acht weitere Eisenmänner nach Hattingen.
Auf der Website kann man sich über die verschiedenen Themen-Schwerpunkte der Stadtführungen informieren, findet Kontakte und weitere Informationen: https://www.hattingenzufuss.de/