Essen. Verdi-Verhandlungsführerin Zimmer will 2,50 Euro mehr Stundenlohn für Beschäftigte im NRW-Einzelhandel durchsetzen. Sie warnt vor Altersarmut.

Für die rund 714.000 Beschäftigten des nordrhein-westfälischen Einzelhandels beginnen am heutigen Montag die Tarifverhandlungen. Um die stark steigende Inflation auszugleichen, fordert die Gewerkschaft Verdi 2,50 Euro mehr Stundenlohn. Mit der Verdi-Verhandlungsführerin Silke Zimmer sprachen wir über die Lage im NRW-Handel und warum ein hoher Tarifabschluss auch ein Beitrag im Kampf gegen die Altersarmut sein soll.

An diesem Montag beginnen die Tarifverhandlungen im nordrhein-westfälischen Einzelhandel. Mit welchen Erwartungen gehen Sie in die erste Runde?

Silke Zimmer: Für uns ist absolut zentral, dass wir nachhaltige Einkommensverbesserungen für die Beschäftigten durchsetzen. Die Preissteigerungsrate hat 2022 ein Rekordniveau erreicht. Und für 2023 wird eine Inflationsrate von sechs Prozent erwartet. Eine tabellenwirksame Anhebung ist deshalb der Kern unserer Forderung. Das hat auch eine Beschäftigtenumfrage klar ergeben: Höhere Gehälter sind für die Beschäftigten das zentrale Thema.

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Verdi NRW fordert nicht wie sonst üblich eine prozentuale Durchschnittserhöhung der Gehälter, sondern 2,50 Euro mehr pro Stunde. Warum gehen Sie diesen Weg?

Zimmer: Das ist der Beschäftigten-Struktur im Einzelhandel geschuldet. Eine Verkäuferin erhält in der Endstufe ab dem 6. Berufsjahr 2832 Euro bei einer 37,5-Stunden-Woche. Allerdings: Das Vollzeit-Arbeitsverhältnis ist im Einzelhandel mit die Ausnahme. Die größte Gruppe sind die sozialversicherungspflichtigen Teilzeit- und geringfügig Beschäftigten. Sie machen 63 Prozent aus. Damit überwiegt die Gruppe der Teilzeitbeschäftigten mit ganz unterschiedlichen Stundenmodellen deutlich im Einzelhandel. Mit der Forderung von 2,50 Euro pro Stunde kann das jede Kollegin und jeder Kollege sofort umrechnen.

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Wie erklären Sie sich diese zerklüftete Struktur?

Zimmer: Das hat sehr viel mit der Ausweitung der Öffnungszeiten in den vergangenen Jahrzehnten zu tun, die dazu geführt hat, dass die Zahl der Vollzeitstellen deutlich zurückgegangen ist. Die Arbeitgeber wollen immer mehr Flexibilität, um die langen Öffnungszeiten abzudecken. Sie bieten Stellen an, die aus unserer Sicht viel zu wenige Stunden beinhalten. Viele Kolleginnen und Kollegen würden gern länger arbeiten.

Silke Zimmer, Landesfachsbereichsleiterin Handel steht am Dienstag, den 13. April 2021 im DGB Haus in Essen. Foto: Kerstin Kokoska/ FUNKE Foto Services
Silke Zimmer, Landesfachsbereichsleiterin Handel steht am Dienstag, den 13. April 2021 im DGB Haus in Essen. Foto: Kerstin Kokoska/ FUNKE Foto Services © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Wahrscheinlich auch, weil sie an ihre spätere Rente denken.

Zimmer: Ja. Existenzsichernde Gehälter sind natürlich der beste Schutz vor Altersarmut. Nach unseren Berechnungen haben 90 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel nach 40 Beitragsjahren nicht einmal Anspruch auf 1000 Euro Rente netto. Das ist dramatisch. Damit sind sie trotz vieler Jahre harter Arbeit von Altersarmut bedroht. Deshalb fordern wir auch ein rentenfestes Mindeststundenentgelt von 13,50 Euro. Das ist das Stundenentgelt, das man braucht, um nach 45 Versicherungsjahren in Vollzeit eine Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus zu erhalten. Das haben viele derzeit einfach nicht.

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Gibt es schon ein Angebot der Arbeitgeber in NRW?

Zimmer: In Nordrhein-Westfalen noch nicht. Da beginnen, die Tarifverhandlungen erst jetzt. Allerdings in Baden-Württemberg, wo bereits verhandelt wird. Da liegt ein erstes Angebot mit 750 Euro Einmalzahlung und drei Prozent mehr Gehalt im ersten Jahr, sowie für das zweite Jahr 250 Euro und zwei Prozent auf dem Tisch. Das ist angesichts der hohen Preissteigerungen viel zu gering. Allein Lebensmittel sind im März in NRW um 23,4 Prozent teurer geworden. Darunter leiden Menschen mit geringen Einkommen besonders heftig.

Wie schätzen Sie die wirtschaftliche Lage des Einzelhandels ein?

Zimmer: Trotz aller Krisen und Risiken hat der Einzelhandel in Deutschland im vergangenen Jahr einen Rekordumsatz gemacht. Der befürchtete große Konsumeinbruch ist ausgeblieben. Der Einzelhandel hat nach wie vor einen Anteil von 16,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt. Jetzt ist es deshalb an der Zeit, die Beschäftigten an der guten wirtschaftlichen Entwicklung im Einzelhandel teilhaben zu lassen.

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Galeria, P&C, Gerry Weber, Salamander sind unter das Schutzschirmverfahren geflüchtet. Wie kommt es zu dieser Häufung?

Zimmer: Unterschiedliche Vertriebsformen haben natürlich unterschiedliche Anteile an den Umsätzen. Alle Teilbranchen hatten im vergangenen Jahr ein Umsatzplus – mit Ausnahme der Teilbranchen SB-Warenhäuser und Onlinehandel. Das ist wenig verwunderlich, weil sie exorbitante Zuwächse in den Corona-Jahren 2020 und 2021 hatten, als weite Teile des Einzelhandels schließen mussten.

Und trotzdem gibt es so viele Insolvenzverfahren.

Zimmer: Das muss man sich genau anschauen. Grundsätzlich ist in den letzten drei Jahren keine dramatische Steigerung der Insolvenzen erkennbar: 2020 waren es monatlich im Durchschnitt 72 Unternehmen, 2021 waren es 61 und 2022 wieder 72 eröffnete Insolvenzverfahren. Ob dieser Trend in 2023 so bleibt oder ob er sich ändert, bleibt abzuwarten. Richtig ist: Zurzeit werden Insolvenzen gerne mit steigenden Energiekosten, hoher Inflation und geändertem Einkaufsverhalten begründet. Das ist aus meiner Sicht aber nur die halbe Wahrheit. Meine Erfahrung sagt, dass in der Regel die Probleme tiefergreifend sind, weil Entwicklungen falsch eingeschätzt wurden oder zu wenig investiert wurde.

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Halten Sie Schutzschirmverfahren dennoch für sinnvoll?

Zimmer: Wenn die Insolvenz in einem Schutzschirmverfahren durchgeführt wird, also in Eigenverantwortung, ist das Ziel die Fortführung des Unternehmens und nicht dessen Zerschlagung. Und das bietet die Chance, einen Großteil der Arbeitsplätze zu erhalten, auch wenn es oft zu Einschnitten für die Beschäftigten kommt, wie wir es gerade bei Galeria sehen, wo die Kolleginnen und Kollegen gerade wieder einmal Fehlentscheidungen des Managements ausbaden sollen. Um das zu vermeiden, ist es deshalb unverzichtbar, dass Belegschaften frühzeitig einbezogen und abgesichert werden. Denn mit den Beschäftigten haben die Unternehmen eigentlich die besten Berater bereits in ihren Häusern. Sie wissen, wo die Sortimente und Abläufe stimmen oder auch nicht. Diese Erfahrungen müssen viel stärker genutzt werden.

Immer mehr Unternehmen im Einzelhandel scheiden aus der Tarifbindung aus. Wie viele Beschäftigte erreichen Sie noch mit Ihrem angestrebten Tarifabschluss?

Zimmer: Immer mehr Unternehmen entziehen sich mit Tarifflucht ihrer sozialen Verantwortung. Aber der Tarifvertrag ist nach wie vor die Währung im Einzelhandel. Daher entfalten die Tarifverträge dennoch eine große Wirkung, obwohl mittlerweile nur 28 Prozent der bundesweit 3,48 Millionen Beschäftigten im Einzelhandel in tarifgebundenen Unternehmen beschäftigt sind. Deshalb fordern wir aber auch erneut die gemeinsame Beantragung der die Allgemeinverbindlichkeit unserer Tarifverträge, wie sie bis zum Jahr 2000 gegolten hatte.

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Verdi ruft in diesem Jahr in vielen Branchen zu Warnstreiks auf. Wird es auch im NRW-Einzelhandel zu Arbeitsniederlegungen kommen?

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Zimmer: Unser Ziel ist es, am Verhandlungstisch zu tragfähigen Ergebnissen zu kommen. Arbeitskämpfe sind das Mittel der Wahl, wenn man nicht zu akzeptablen Resultaten kommt. Wir wünschen es uns nicht, Druck auf die Arbeitgeber ausüben zu müssen. In der Vergangenheit waren wir aber oft gezwungen, zu Warnstreiks aufzurufen. Und die Bereitschaft der Kolleginnen und Kollegen ist groß. Denn sie brauchen das Geld, um ihre Reallohnverluste auszugleichen. Die Situation ist dramatisch. Viele Menschen wissen nicht, wie sie am Ende des Monats den Wocheneinkauf oder den Weg zur Arbeit bezahlen sollen. Die Bereitschaft der Beschäftigten ist daher groß, für ihre berechtigten Forderungen auf die Straße zu gehen.

>>> Zur Person

Der gebürtige Essenerin Silke Zimmer leitet seit 2012 den Verdi-Landesfachbereich Handel in Nordrhein-Westfalen. In der vergangenen Woche nominierte die Bundesfachkonferenz Handel die 51-Jährige mit großer Mehrheit für den Verdi-Bundesvorstand. Die Wahlen sind bei einem Kongress im September in Berlin geplant. Zimmer soll damit die Nachfolge von Stefanie Nutzenberger antreten, die bis dahin bei Verdi Verantwortung für die knapp 3,5 Millionen Beschäftigten im deutschen Einzelhandel trägt.