Essen. Auch Tariflöhne sichern im Handel keine ordentliche Rente, klagt Verdi und fordert höhere Stundenlöhne. Galeria soll zurück in den Flächentarif.

Von der Kassiererin an der Supermarktkasse über den Berater im Elektronikmarkt bis zur Verkäuferin im Modeladen: Mehr als drei Millionen Menschen in Deutschland arbeiten im Einzelhandel. Er ist damit einer der größten Wirtschaftszweige – und zugleich Deutschlands größte Niedriglohnbranche. Daran wird die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi auch in der nun anstehenden Tarifrunde nichts ändern können, die Einstiegslöhne liegen auf oder knapp über Mindestlohnniveau. In Nordrhein-Westfalen geht Verdi deshalb mit der Forderung in die Verhandlungen, die vor allem den unteren Lohngruppen helfen soll: 2,50 Euro mehr die Stunde und ein „rentenfestes Mindestentgelt“ von 13,50 Euro pro Stunde.

Wer im Handel arbeitet, sieht die Rekordinflation täglich bei der Arbeit an den Preisschildern und kann sich von den Dingen, die er verkauft, immer weniger leisten. Warenverräumer etwa erhielten in NRW einen Stundenlohn von 11,68 Euro – bis der gesetzliche Mindestlohn diesen Tarif im vergangenen Oktober kassierte. Nicht von ungefähr ist es der Handelsverband HDE, der bereits jetzt vor einer höheren Untergrenze warnt: „In diesen ungewissen Zeiten gilt es, eine Überforderung der Arbeitgeber zu verhindern. Es darf deshalb keine weitere Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2024 geben“, warnt HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth die Ampel-Regierung.

Verdi fordert rentenfestes Mindesteinkommen

Doch auch eine Fachkraft mit abgeschlossener Ausbildung verdient im Einzelhandel laut Daten der Bundesagentur für Arbeit mit durchschnittlich 2745 Euro brutto im Monat so wenig, dass sie auch nach 40 Berufsjahren in Vollzeit weniger als 1000 Euro Rente erhalten würde. Das erreichen derzeit neun von zehn Beschäftigten im Einzelhandel nicht. Ein „rentenfestes Mindesteinkommen“ ist ein weiteres Ziel von Verdi, wie Stefanie Nutzenberger, ranghöchste Handelsexpertin der Gewerkschaft, am Mittwoch vor Journalisten erläuterte. Mit 13,50 Euro Stundenlohn werde wenigstens eine Rente über Grundsicherungsniveau erreicht.

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Für den Einzelhandel wird in fast jedem Bundesland eigenständig verhandelt. Die ersten Tarifverträge laufen in Baden-Württemberg und Hessen zum Monatsende aus, in NRW Ende April. Die erste Verhandlungsrunde ist am 24. April, es geht um die Löhne für rund 715.000 Beschäftigte in 100.000 Betrieben, darunter fast 200.000 Minijobber.

Das sind kaum weniger als im öffentlichen Dienst, dessen Tarifrunde gerade niemandem entgehen dürfte. Doch während Erzieherinnen, Bahnfahrer und Entsorgungsbeschäftigte kurzerhand Kitas, Nahverkehr und Müllabfuhr stilllegen können, haben die Frauen und Männer im Einzelhandel nur eine geringe Streikmacht. Denn nur noch 15 Prozent aller Handelsbetriebe wenden den Flächentarif laut Verdi an. „Tarifflucht und ein gnadenloser Verdrängungswettbewerb auf dem Rücken der Kolleginnen und Kollegen sind ein großes Problem im Einzelhandel“, betont Silke Zimmer, Verhandlungsführerin in NRW.

Arbeitgeber in NRW: Forderung nicht bezahlbar

Der Handelsverband NRW wies die Forderung von Verdi zurück. 2,50 Euro mehr pro Stunde bedeuteten bei einer Vollzeittätigkeit mit 163 Stunden pro Monat ein Plus von 407,50 Euro, was mehr als 14 Prozent Lohnerhöhung im Verkauf entspreche, in den unteren Entgeltgruppen gar von bis zu 23 Prozent, rechnen die Arbeitgeber vor. Verhandlungsführer Christopher Ranft sagte: „Die Forderung stellt eine Überstrapazierung breiter Teile des Einzelhandels dar.“ Er schlug vor, über längere Laufzeiten von bis zu zwei Jahren, gestaffelte Erhöhungen und die Nutzung der von Steuern und Abgaben befreiten Inflationsprämie zu reden.

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So mächtig Verdi im öffentlichen Dienst agieren kann, so schwer tut sich die Gewerkschaft, im Handel eine Durchschlagskraft zu entwickeln, mit der sich höhere Löhne erkämpfen lassen. Zum Organisationsgrad sagt Verdi nichts, aber wenn mehr als acht von zehn Betrieben gar nicht im Tarif sind, lässt sich erahnen, wie niedrig er ist. Deshalb richtet sich eine Hauptforderung neben den Arbeitgebern auch an die Politik: Sie soll die Einzelhandelstarife in den Ländern jeweils für allgemeinverbindlich erklären. Dafür müsste die Bundesregierung jedoch das faktische Veto-Recht der Arbeitgeber, die das gemeinsam mit der Gewerkschaft beantragen müssen, abschaffen, fordert Verdi.

Was die Verhandlungen für die so breitgefächerte Branche ebenfalls erschwert, ist die aktuelle Krise im Textil- und Schuhhandel. Während es etwa dem Lebensmittelhandel trotz jüngster Einbrüche nach wie vor gut geht, gerät ein Modehaus nach dem anderen in Existenznot. Nicht zuletzt Galeria Karstadt Kaufhof. Die Essener Warenhauskette durchläuft das zweite Insolvenzverfahren binnen drei Jahren, am kommenden Montag soll die Gläubigerversammlung in Essen dem Insolvenzplan zustimmen.

Auch Galeria soll wieder Flächentarif zahlen

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Für Nutzenberger kein Grund, Galeria außen vor zu lassen. Das Verdi-Vorstandsmitglied pocht auf laufende Verträge, nach denen bei Galeria im Falle einer Insolvenz der Flächentarif zu gelten habe. Das sei aufgrund der schwierigen Lage nicht zu stemmen, entgegnet das Management um Geschäftsführer Miguel Müllenbach und Chefsanierer Arndt Geiwitz. Nutzenberger erklärt, die Warenhauskette werde nach der Insolvenz ja saniert sein, die vom Management geplante „dauerhafte Senkung der Löhne auf dem Rücken der Beschäftigten“ lehne Verdi strikt ab, die Verhandlungen dazu liefen weiter. Sie glaube an die Zukunft der Kaufhäuser, sagte Nutzenberger. Laut Insolvenzplan will Galeria Stand heute 47 nach zunächst 52 Filialen schließen oder abgeben 82 weiterführen.