Essen. Minister Pinkwart: Bei einem Gasnotstand sollen in NRW manche Anlagen ganz runterfahren, andere nur drosseln und Kohlekraftwerke länger laufen.
Nordrhein-Westfalen will seine energieintensiven Industrien so weit wie möglich vor Abschaltungen schützen, sollte es zu einem Gasnotstand kommen. Dafür beteiligt sich das Land am Krisenstab des Bundes und hat auch ein eigenes „Krisenteam Gas“ in NRW eingesetzt. Landeswirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) geht es vor allem darum, für den Notfall Priorisierungen für die Abschaltungen oder Drosselungen vorzunehmen, die betroffenen Unternehmen das Überleben ermöglichen, wie er am Donnerstag vor Journalisten sagte. Zudem sollen Industriekomplexe wie der Chemiepark Marl länger Kohlestrom erzeugen dürfen.
NRW muss sich auf Gas-Notstand vorbereiten
Der von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) eingesetzte Krisenstab wird nun täglich die Versorgungslage beim Gas prüfen und Alarm schlagen, wenn zu wenig durch die Pipelines strömt. Die Angst vor einem unmittelbar bevorstehenden Lieferstopp hat die telefonische Zusage des russischen Präsidenten Wladimir Putin an Kanzler Olaf Scholz, weiter Gas gegen Euro zu liefern, zwar vorerst abgemildert. Doch weil auf Putins Zusagen zuletzt wenig Verlass war, müssen sich das Land und seine Industrie auf den Ernstfall vorbereiten.
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Dafür erarbeitet die Bundesnetzagentur derzeit mit allen Beteiligten einen Abschaltplan, der festlegt, wer bei einem Gasnotstand wann abgeklemmt wird. Bisher stehen nur die groben Leitplanken: Geschützte Kunden wie Privathaushalte, Krankenhäuser und Gaskraftwerke, die auch Wärme produzieren, zuletzt, gewerbliche und industrielle Betriebe zuerst. Doch dieser „ungeschützte“ Bereich ist vor allem in NRW riesig, er steht laut Pinkwart für 40 Prozent des gesamten Erdgasverbrauchs an Rhein und Ruhr. Allein die energieintensive Industrie beschäftige 440.000 Menschen in NRW, so Pinkwart.
Pinkwart: Mal ist Abschalten besser, mal drosseln
Er will deshalb bei der Aufstellung der Abschaltreihenfolge nun darauf achten, dass sie möglichst wenige Betriebe gefährden und ihre Beschäftigten die Arbeitsplätze kosten würde. Und verdeutlicht, was schon eine kurze Unterbrechung der Gasversorgung im Einzelfall anrichten kann: „In der Glasindustrie sind die Schmelzwannen jahrzehntelang rund um die Uhr in Betrieb, sie würden sofort zerstört, wenn die Anlage runterfährt“, nennt der Minister ein Beispiel. Deshalb müsse es darum gehen, in solchen Bereichen keine vollständige Abschaltung zuzulassen, sondern die Gaslieferung zunächst zu drosseln, damit die Anlage weiterlaufen kann.
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In anderen Bereichen könne dagegen eine Abschaltung sinnvoller sein. Denn Pinkwart will auch darauf achten, dass die Unternehmen weiter Geld verdienen können. Produziere etwa ein Chemiekonzern an drei Standorten in NRW, sei es sinnvoller, einen oder zwei ganz runterzufahren, als alle drei mit geringer Auslastung laufen zu lassen.
Lebensmittel und Arzneien haben Priorität
Grundsätzlich müsse beim Notfallplan auch nach Produkten priorisiert werden. „Lebensmittel und Medikamente, also alles, was zum täglichen Bedarf zählt, hat natürlich Vorrang“, sagt Pinkwart. Aber so einfach sei das nicht – denn Lebensmittel und Arzneien müssten verpackt werden, und für die Folien brauche es chemische Vorprodukte. Evonik-Chef und Chemie-Präsident Christian Kullmann hatte es gegenüber unserer Redaktion am Vortag so ausgedrückt: „90 Prozent aller Produkte, die in Deutschland hergestellt werden, funktionieren nur, weil Chemie drin ist.“
In den kommenden Wochen wird wahrscheinlich jeder Lobbyverband und jedes größere Unternehmen den Kontakt zu den Krisenstäben und den Ministerien suchen, um zu erklären, dass seine Branche oder Fabrik als letztes abgeklemmt werden dürfe. Netzagentur und Politik müssen versuchen, die für die Versorgungssicherheit beste Reihenfolge zu finden, um Fairness gegenüber einzelnen Wirtschaftszweigen geht es dabei sicher auch, sie steht aber nicht an erster Stelle.
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Ebenso geht es bei der Sicherung der Stromversorgung im Notfall nicht mehr in erster Linie um Klimaschutz. Nicht systemrelevante Gaskraftwerke gingen ebenfalls vom Netz, wenn Russland nicht mehr liefert. Einspringen müssten Kohlekraftwerke, die deutlich mehr CO2 ausstoßen. Stromerzeuger wie RWE und Steag haben bereits signalisiert, ihre Kohleblöcke länger befeuern zu wollen. So sagte Steag-Chef Andreas Reichel dieser Zeitung: „Unsere Steinkohlekraftwerke gehen in die Nachspielzeit.“ Das sei notwendig, „damit es Versorgungssicherheit in Deutschland gibt“.
Umrüstung von Kohle auf Gas verschieben
Bereits um ein Jahr verschoben hat die Steag die Umrüstung des Kohleblocks 4 in Herne auf Erdgas. Auch der Essener Chemiekonzern Evonik will sein eigenes Kraftwerk in Marl länger mit Kohle befeuern statt es wie geplant auf Gas umzurüsten, damit es den Chemiepark Marl weiter sicher mit Strom versorgen kann. Zumal das Gas in der Produktion selbst dringender gebraucht wird. Pinkwart hat die Bundesregierung gebeten, dies zu ermöglichen. Denn nachdem das Evonik-Kohlekraftwerk in der Stilllegungsauktion der Netzagentur den Zuschlag für diesen Oktober erhalten hat, muss es nach geltendem Recht im November abgeschaltet werden. Dieselbe Problematik gibt es Pinkwart zufolge auch am Düsseldorfer Produktionsstandort des Konsumgüterriesen Henkel (Persil, Schwarzkopf, Pattex).
Auf die Ungewissheit an der Gasfront reagiert aktuell auch RWE im rheinischen Revier. Am Freitag werde dort wie geplant der 300-Megawatt-Block A des Braunkohlenkraftwerks Neurath stillgelegt, teilte der Essener Dax-Konzern am Donnerstag mit. Aber: „Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um eine mögliche Reduzierung des Gasverbrauchs in der Stromerzeugung wird RWE den Block für kurze Zeit konservieren.“ RWE ermöglicht damit, das Kraftwerk im Notfall wieder hochzufahren.
„Das Bundeswirtschaftsministerium prüft gerade, welche Maßnahmen für den kommenden Winter erforderlich sind, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Wir haben der Politik zugesagt, Kraftwerke, bei denen das technisch möglich ist, im Notfall wieder ans Netz zu bringen“, sagte Frank Weigand, Chef der RWE-Kraftwerkssparte. Die Entscheidung treffe die Politik, RWE halte am Kohleausstieg fest.