Essen. Wegen des Ukraine-Kriegs will Steag-Chef Andreas Reichel Kohlekraftwerke länger als geplant betreiben. Bilanzzahlen fallen überraschend gut aus.
Der Essener Energiekonzern Steag war viele Jahre lang Deutschlands größter Produzent von Strom aus Steinkohle. Doch mit der Energiewende und wachsender Konkurrenz durch Windkraft und Photovoltaik geriet das kommunale Unternehmen stark unter Druck. Angesichts des Kriegs in der Ukraine ändert sich die Lage abermals. „Unsere Steinkohlekraftwerke gehen in die Nachspielzeit“, sagt der neue Steag-Chef Andreas Reichel im Gespräch mit unserer Redaktion. Der Betrieb der Kohlekraftwerke sei notwendig, „damit es Versorgungssicherheit in Deutschland gibt“, betont Reichel. Gleichzeitig will er das Unternehmen, das einer Reihe von ausstiegswilligen Stadtwerken aus dem Ruhrgebiet gehört, zu einem grünen Konzern umbauen – mit Geschäften rund um erneuerbare Energien und Fernwärme. Mit der Bundesregierung will Reichel auch über „eine weitergehende Lösung“ für die Kohle sprechen. Hierfür bringt Reichel die Gründung einer staatlichen Stiftung für Steinkohlekraftwerke ins Gespräch. Lesen Sie hier unser Interview im Wortlaut:
Herr Reichel, eigentlich wollten Sie bei der Steag möglichst rasch die Kohle-Ära beenden. Gibt es nun, weil wegen des Ukraine-Kriegs das Gas knapp werden könnte, ein Comeback der Kohle?
Reichel: Für Steag ist klar: Mit dem furchtbaren Krieg in der Ukraine wird sich unsere grundsätzliche Strategie für die Energiewende in Deutschland nicht ändern. Die Kohleverstromung neigt sich dem Ende entgegen. Deshalb haben wir uns schon 2020 neu aufgestellt und neu ausgerichtet. Wir bauen unser Geschäft jenseits der Steinkohleverstromung aus, so schnell es geht. Aber die Welt um uns herum hat sich radikal verändert. Deutschland muss seine Abhängigkeit vor allem von russischem Erdgas verringern. Dazu kann Steag einen Beitrag leisten.
Heißt das, die Kohlekraftwerke der Steag laufen länger als geplant?
Reichel: Unsere Steinkohlekraftwerke gehen in die Nachspielzeit. Es wird angesichts der aktuellen Energiekrise nicht mehr das Ziel sein, zu schauen, wie wir möglichst schnell bis zum Jahr 2030 viele Anlagen vom Netz bekommen. Stattdessen sollten wir für jedes einzelne Kraftwerk einen Zeitraum definieren, wie lange es noch gebraucht wird.
Was bedeutet das für die Kohlekraftwerke der Steag?
Reichel: Für unseren Standort in Herne zum Beispiel haben wir entschieden, die für dieses Frühjahr geplante Umrüstung von Steinkohle- auf Erdgasbefeuerung zu verschieben. Der Kohleblock 4 läuft nach unseren derzeitigen Planungen bis ins Frühjahr 2023 weiter. Damit können wir im kommenden Winter zur Dämpfung der Energiepreise und zur Versorgungssicherheit beitragen. Auch für unsere Kraftwerke in Bergkamen und im saarländischen Völklingen ändern wir unsere Pläne. Wir hatten eine vorzeitige Stilllegung im Frühjahr angepeilt, lassen die Anlagen aber in jedem Fall noch bis mindestens Ende Oktober 2022 laufen.
Kommt danach eine weitere Verlängerung?
Reichel: Das werden wir sehen. Wenn, dann läge diese nicht allein in unserer Hand. Die Kraftwerke in Bergkamen und Völklingen sollen gemäß Kohleverstromungsbeendigungsgesetz Ende Oktober endgültig vom Netz gehen. Nun sind andere, etwa die Bundesnetzagentur und die Bundesregierung am Zug, zu prüfen, ob es dabei bleibt oder nicht. Klar ist: Wir haben eine politische Notsituation. Wenn wir als Unternehmen einen Beitrag leisten können, die Energieversorgung in Deutschland zu stabilisieren, dann bringen wir uns selbstverständlich ein.
Wollen Sie den bestehenden Kohlekompromiss begraben?
Reichel: Es geht nicht darum, den vernünftigen, mühsam errungenen Kompromiss infrage zu stellen. Klar ist aber auch, dass die Kohlekraftwerke angesichts der dramatisch veränderten Situation noch eine gewisse Zeit gebraucht werden, damit es Versorgungssicherheit in Deutschland gibt. Es ist nun Sache der Bundesregierung zu definieren, in welchem Umfang und für welchen Zeitraum Kohle bei der Stromerzeugung weiter zum Einsatz kommen soll. Das nationale Ziel lautet, die Abhängigkeit von russischen Gasimporten zügig zu verringern.
Was schwebt Ihnen vor?
Reichel: Es gibt schon jetzt das Instrument, bestimmte Kohlekraftwerke als systemrelevant für die Versorgungssicherheit zu deklarieren. In seinem solchen Fall fordert der Übertragungsnetzbetreiber Kraftwerke für einige Stunden an, um lokale Schwankungen im Stromnetz auszugleichen. Hinterher erfolgt dann eine Kostenerstattung. Denkbar ist auch eine weitergehende Lösung; etwa die Gründung einer staatlichen Stiftung, in die Kohlekraftwerke eingebracht werden könnten. Auch eine „Gesellschaft für Versorgungssicherheit“ wäre denkbar. Wir sind für Gespräche mit der Bundesregierung darüber offen.
Möchten Sie Ihre Kohlekraftwerke loswerden?
Reichel: Das ist nicht die Frage. Es geht darum, den gesetzlich verankerten Kohleausstieg unter den veränderten Bedingungen so zu gestalten, dass es keine zusätzlichen Probleme bei der Versorgungssicherheit gibt. Wir kommen immer wieder an den einen Punkt: Durch den Ukraine-Krieg gibt es eine neue Lage. Deutschland muss seine gefährliche Abhängigkeit von russischen Energieimporten verringern und eine
sichere Energieversorgung aus anderen Quellen gewährleisten. Wir könnten unter den aktuellen Marktbedingungen unsere Kraftwerke in eigener unternehmerischer Verantwortung für einen gewissen Zeitraum weiterbetreiben, denn wir verdienen aktuell Geld mit unseren Anlagen. Der Strom und die Wärme, die wir produzieren, werden gebraucht. Gleichzeitig blicken wir nach vorn: Wir möchten Steag zu einem grünen Unternehmen umbauen, also weg von der Kohle.
Deutschland erhält nicht nur Gas, sondern auch Kohle aus Russland. Könnten Sie jetzt schon ohne die russischen Rohstoffe auskommen?
Reichel: Ja, Steag kann ohne russische Kohle auskommen. Bei uns hatte sie schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine einen Anteil von weniger als 20 Prozent – mit sinkender Tendenz. Diesen Anteil können wir durch größere Lieferungen aus Ländern wie Südafrika, den USA oder Kolumbien ersetzen. Zum Vergleich: In Deutschland insgesamt kommt etwa die Hälfte der eingesetzten Kohle aus Russland.
Die Steag hat angekündigt, innerhalb der nächsten vier, fünf Jahre rund 1000 Arbeitsplätze in Deutschland abzubauen – insbesondere im Bereich der Kohleverstromung. Kommen diese Pläne vom Tisch, wenn die Kraftwerke länger als gedacht laufen?
Reichel: Wir bleiben bei unserer Planung. Etwa 660 Arbeitsplätze werden durch die Beendigung der Kohleverstromung an den Kraftwerksstandorten wegfallen. Hinzu kommen weitere 140 Stellen in der Verwaltung sowie etwa 200 Arbeitsplätze, die aus Effizienzgründen wegfallen. Wenn nun aber die Politik entscheidet, zur Sicherung der Versorgung mit Strom und Heizwärme bestimmte Kraftwerke länger am Netz zu halten, dann brauchen wir dafür auch qualifiziertes Personal. Darüber sprechen wir mit unseren Leuten, von denen sich manche schon auf den Ruhestand vorbereitet haben. Es verdient Respekt, wenn sie nun sagen: Wenn wir gebraucht werden, dann arbeiten wir auch länger.
Durch die Energiewende ist die Steag in den vergangenen Jahren stark unter Druck geraten – mit roten Zahlen in der Bilanz. Wie angeschlagen ist das Unternehmen noch?
Reichel: Wir haben unsere wirtschaftliche und finanzielle Stabilität zurückgewonnen. Im vergangenen Jahr haben wir uns deutlich besser geschlagen als erwartet. Positiv ist für uns, dass die Strompreise vergleichsweise hoch und unsere Kraftwerke seit September 2021 wieder gut ausgelastet sind. Unser Umsatz lag auf vorläufiger Basis im Geschäftsjahr 2021 mit knapp 2,8 Milliarden Euro rund ein Drittel über dem Vorjahreswert. Unser Ergebnis vor Zinsen und Steuern – das Ebit – hat sich um etwa ein Sechstel auf 230 Millionen Euro verbessert. Unser Konzernergebnis nach Steuern liegt sogar bei rund 300 Millionen Euro – nach einem Verlust von 170 Millionen Euro im Jahr zuvor. Unsere vorläufigen Zahlen können sich also sehen lassen. Den endgültigen Jahresabschluss mit den endgültigen Zahlen werden wir voraussichtlich Anfang Mai veröffentlichen.
Erwarten Sie für das aktuelle Jahr ähnliche Ergebnisse?
Reichel: Unser aktuelles Geschäftsjahr hat gut begonnen. Wir profitieren weiterhin von hohen Strompreisen an den Großhandelsmärkten und können gleichzeitig einen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten.
Zu Steag gehört auch eine Energiehandelssparte. Aufgrund der hohen Preisschwankungen musste sich der Düsseldorfer Energiekonzern Uniper bereits mit Hilfe eines Staatskredits der KfW absichern. Ist die Situation bei der Steag vergleichbar?
Reichel: Die aktuelle Lage an den Energiemärkten ist auch für uns eine echte Herausforderung. Im Stromhandel werden für Belieferungsvereinbarungen regelmäßig Sicherheitsleistungen fällig. Bei hohen Preisen steigt der Liquiditätsbedarf stark, um solche Sicherheiten stellen zu können. Wir sprechen hier über Beträge in mittlerer dreistelliger Millionenhöhe. Es hilft uns, dass wir unsere Liquidität angesichts guter Ergebnisse in der Stromerzeugung verbessern konnten. Außerdem haben wir Finanzpartner gewonnen, die uns Liquidität zur Verfügung stellen. Um es ganz zu klar zu sagen. Auch wir brauchen diese Unterstützung, um die enorm gestiegen Sicherheitsleistungen stellen zu können und anschließend unseren Beitrag für eine sichere Energieversorgung leisten zu können. Wir nutzen in diesem Zusammenhang alle Möglichkeiten.
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Von den rund 6000 Steag-Beschäftigten arbeitet etwa jeder zweite im Ausland. Sie haben ein großes Energieservice-Geschäft in Indien und betreiben Steinkohlekraftwerke in der Türkei, auf den Philippinen und in Kolumbien. Bleibt das Auslandsgeschäft ein wichtiger Teil der Steag, die wohlgemerkt nach wie vor ein kommunales Unternehmen ist?
Reichel: Ja, unsere Auslandsaktivitäten sind ein wichtiger Teil von Steag. Unser Kraftwerk im türkischen Iskenderun beispielsweise liefert gute Ergebnisse. Im Inland wie im Ausland lautet unsere grundsätzliche Strategie: Dekarbonisierung. Daher wollen wir auch unser Kohlegeschäft im Ausland in den nächsten Jahren schrittweise reduzieren. Zugleich bleiben wir international tätig: Unsere Photovoltaik-Tochter Sens beispielsweise entwickelt in Südeuropa eine ganze Reihe größerer Projekte.
Die Steag ist das größte Fernwärmeunternehmen Nordrhein-Westfalens. Nach eigenen Angaben decken Sie den Bedarf von mehr als 275.000 Haushalten. Müssen sich Ihre Kunden angesichts der aktuellen Lage auf Preissteigerungen einstellen?
Reichel: Es gibt keinen Bereich in der Energiewirtschaft, der sich von der allgemeinen Preisentwicklung abkoppeln kann. Das gilt auch für die Fernwärme. Für uns ist das Geschäft ein wichtiger Wachstumsbereich, gerade mit Blick auf eine klimafreundliche Wärmeversorgung. Wir arbeiten hier an konkreten Lösungen, beispielsweise durch die Erschließung und Nutzbarmachung von Abwärme.
Die Steag gehört den Stadtwerken aus Essen, Bochum, Duisburg, Dortmund, Oberhausen und Dinslaken, die das Unternehmen vor mehr als zehn Jahren dem Evonik-Konzern abgekauft haben. Jetzt wollen die kommunalen Eigentümer wieder aussteigen. Wird die Steag dann ein privates Unternehmen?
Reichel: Ich kann das Ergebnis des Verkaufsprozesses nicht vorwegnehmen. Wir sind ein mitbestimmtes Unternehmen, und deshalb entscheiden am Ende unsere Anteilseigner gemeinsam mit den Arbeitnehmervertretern, wie es weitergeht. Mein Ziel und das meiner beiden Geschäftsführungskollegen ist es, Steag so auszurichten und aufzustellen, dass wir auf den Energiemärkten der Zukunft wirtschaftlich eine gute Perspektive haben.
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Neben Ihrer Geschäftsführertätigkeit bei der Steag sind Sie auch Mitglied im Kuratorium der Essener RAG-Stiftung, die unter anderem Mehrheitsaktionärin des Chemiekonzerns Evonik ist. Sind die beiden Aufgaben miteinander vereinbar?
Reichel: Ja, meine Aufgabe bei der RAG-Stiftung habe ich auf Bitte der NRW-Landesregierung übernommen. Nebenbei bemerkt: Hätte die RAG-Stiftung – wie zwischenzeitlich geplant – die Rolle einer Treuhänderin bei Steag übernommen, hätte ich mein Mandat bei der Stiftung selbstverständlich niedergelegt.
Jetzt agiert eine Anwaltskanzlei als Treuhänderin, um den Verkaufsprozess zu gestalten. Zuvor hatte es vielfach Unstimmigkeiten im Kreis der kommunalen Anteilseigner gegeben. Ist es nicht dennoch ungewöhnlich, dass die Steag eine Treuhand-Lösung benötigt?
Reichel: Es ist gut, dass wir nun einen Akteur haben, der die verschiedenen Interessen koordiniert. Gerade im anstehenden Verkaufsprozess ist es wichtig, dass unsere Anteilseigner mit einer Stimme sprechen.
Sie haben sich viele Jahre politisch für die FDP engagiert. Unter dem Vorsitz des damaligen Vizekanzlers Jürgen W. Möllemann wurden Sie 1992 zum Generalsekretär der FDP in NRW gewählt – und Sie haben bei Konzernen wie Ruhrgas und Eon Karriere gemacht. Wie passt das zusammen?
Reichel: Ich habe die Nähe zur Politik nie als Nachteil, sondern immer als Vorteil gesehen. Die Energiewirtschaft ist eine extrem politische Branche. Der Grund ist ihre herausragende Bedeutung für das Land. Salopp gesagt: Sie können notfalls auf Schokolade verzichten, aber nicht auf Strom. Mir hat es immer sehr geholfen, beide Welten zu verstehen: die Politik und die Wirtschaft.