Essen. Evonik-Chef und VCI-Präsident Kullmann befürchtet krasse Folgen bei Gas-Lieferstopp: Werksstillstände und Kurzarbeit für Millionen Beschäftigte.

Deutschlands Industrie rechnet im Falle eines russischen Gas-Lieferstopps mit gravierenden Folgen für die Unternehmen und ihre Beschäftigten. „Sollte die höchste Gas-Notfallstufe ausgerufen werden, müssten wir unsere großen Werke überall in Deutschland innerhalb kurzer Zeit abstellen. Das hieße: Kurzarbeit für Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, sagte Evonik-Chef Christian Kullmann, der auch Präsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) ist, unserer Redaktion. „Ohne Gasversorgung stehen unsere Werke innerhalb kurzer Zeit still.“ Mit dem Konzernsitz in Essen und dem Chemiestandort Marl, wo das Unternehmen rund 7000 Menschen beschäftigt, ist Evonik einer der großen Arbeitgeber in NRW.

Die Bundesregierung bereitet sich angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine auf eine erhebliche Verschlechterung der Gasversorgung in Deutschland vor. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) setzte deswegen am Mittwoch die Frühwarnstufe des so genannten Notfallplans Gas in Kraft. Dem Notfallplan zufolge gibt es drei Krisenstufen: Frühwarnstufe, Alarmstufe und Notfallstufe. Erst in der Notfallstufe greift der Staat in den Gasmarkt ein. Haushaltskunden, die zum Beispiel mit Gas heizen, wären dann besonders geschützt.

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Kullmann zeigte sich tief besorgt. „Die Situation ist ernst. Wir müssen uns insgesamt als Industrie und insbesondere als chemische Industrie auf ein dramatisches Szenario vorbereiten, das droht, sollten wir von der russischen Gasversorgung abgeklemmt werden. Die Schäden wären immens“, erklärte Kullmann. 90 Prozent aller Produkte, die in Deutschland hergestellt werden, funktionieren seiner Darstellung zufolge nur mit Hilfe der Chemieindustrie. „Es droht eine Kettenreaktion mit massiven Folgen für Branchen wie die Auto- und die Bauindustrie, aber auch medizinische Bereiche“, sagte der Evonik-Chef und VCI-Präsident mit Blick auf einen möglichen Ausfall der Gas-Lieferungen aus Russland. „Ohne Chemie gibt es keine Lacke mehr für Autos, keine Dämmstoffe für den Bau, auch keine Verpackungen für Medikamente.“

Zum VCI gehören Konzerne wie Bayer, BASF, Covestro und Evonik. Der Verband vertritt nach eigenen Angaben die Interessen von rund 1900 Unternehmen aus der chemisch-pharmazeutischen Industrie und chemienaher Wirtschaftszweige. Im vergangenen Jahr setzten die Mitgliedsunternehmen rund 220 Milliarden Euro um und beschäftigten mehr als 530.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

BDI warnt vor Produktionsstopps mit „unübersehbaren Folgen“ für Beschäftigung

Der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) Siegfried Russwurm, der auch Aufsichtsratschef des Essener Konzerns Thyssenkrupp ist, sprach von einem sinnvollen Schritt der Bundesregierung. Mit der Frühwarnstufe seien die Marktakteure, die Bundesregierung und die zuständigen Behörden dazu aufgerufen, die Vorbereitungen für einen möglichen Ernstfall schnell und intensiv voranzutreiben. „Noch gibt es keine Gasknappheit. Markteingriffe sind nicht notwendig“, erklärte Russwurm. Die Politik schätze die Lage allerdings noch einmal deutlich ernster ein als vor einer Woche.

Deutschlands Wirtschaft arbeite bereits mit Hochdruck daran, wo es möglich sei, russisches Gas durch andere Brennstoffe wie Öl und Kohle zu ersetzen, so der BDI. „Der Umstieg ist schwierig und braucht Zeit“, räumte Russwurm allerdings ein. „Bei umfassenden Lieferstörungen drohen Produktionsstopps mit unübersehbaren Folgen für Wachstum, Lieferketten und Beschäftigung.“