Essen. Brenntag-Chef Kohlpaintner erklärt im WAZ-Gespräch, warum er sich aus Russland zurückgezogen hat und spricht über Lieferprobleme bei Chemikalien.

Die Brenntag hat Christian Kohlpaintner mit Beginn der Corona-Pandemie übernommen, den Essener Konzern umgebaut, in den Dax geführt und im zweiten Jahr einen Rekordgewinn abgeliefert. Doch beim Besuch unserer Redaktion spricht er wenig über Zahlen und viel über menschliche Schicksale und große Unsicherheiten für die Zukunft. Russlands Überfall auf die Ukraine und seine Folgen sind auch beim weltgrößten Chemikalienhändler das beherrschende Thema. „Jeder Tag wirft neue Themen auf“, sagt der Brenntag-Chef im Interview mit Frank Meßing und Stefan Schulte – und welche das sind.

Herr Kohlpaintner, die Welt schaut geschockt dabei zu, wie Putin ukrainische Städte in Schutt und Asche legt. Viele westliche Konzerne, auch die Brenntag, haben sich aus Russland zurückgezogen und versuchen, ihren ukrainischen Beschäftigten zu helfen. Was treibt Sie aktuell um?

Christian Kohlpaintner: Wir stehen mit unseren 35 Kollegen aus der Ukraine, die zum größten Teil noch im Land sind, täglich in Kontakt. Was wir hören, dokumentiert unglaubliches menschliches Leid, Familien werden auseinandergerissen, Menschen verlieren ihre Heimat.

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Sie haben als einer der ersten deutschen Konzerne erklärt, sich aus Russland und Weißrussland zurückzuziehen, andere tun dies bisher nicht, etwa Bayer und die Metro. Dafür haben viele kein Verständnis, Sie?

Kohlpaintner: Das sind sehr schwere Entscheidungen, auch uns ist das nicht leichtgefallen. Wir sind seit 2005 in Russland, viele unserer rund 60 Beschäftigten in Russland sind von Anfang an dabei, sie gehören zur Brenntag-Familie. Ja, es ist wichtig, auch aus der Wirtschaft klare Signale zu setzen. Aber jedes Unternehmen muss das für sich entscheiden. Wenn die Entscheidungen die Herstellung von Medikamenten oder Lebensmitteln betreffen, trifft das direkt die Menschen in Russland.

Die Bundesregierung hat harte Sanktionen eingeführt, sieht aber bisher von einem Stopp der Gaslieferungen aus Russland ab. Wie sehen Sie die Reaktion der Bundesregierung auf die aktuelle Krise?

Kohlpaintner: Brenntag, wie auch viele andere Unternehmen, steht mit politischen Vertretern im Austausch zu der aktuellen Situation und wirtschaftlichen Konsequenzen möglicher Sanktionen. Ich bin mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung, und insbesondere Wirtschaftsminister Habeck, sehr zufrieden.

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Die politischen Folgen des Krieges sind unabsehbar, welche wirtschaftlichen Auswirkungen erwarten Sie?

Kohlpaintner: Die Verfügbarkeit von Energie, in der Chemieindustrie insbesondere von Gas, ist ein großes Thema. Die Unsicherheit durch den Krieg sorgt dafür, dass die in der Pandemie entstandenen Probleme mit unterbrochenen Lieferketten bestehen bleiben. Das erzeugt weiteren Inflationsdruck und deutliche Preissteigerungen.

Trifft Sie das als globaler Distributeur besonders?

Kohlpaintner: Die Verfügbarkeit der Produkte ist natürlich entscheidend für uns. Bisher hatte ich erwartet, dass die Lieferketten sich bis zum zweiten Halbjahr normalisieren. Jetzt fällt es schwer zu sagen, wann es zu einer Erholung kommen wird. Die geopolitischen Folgen des Krieges in der Ukraine bereiten uns insgesamt große Sorgen.

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Und die steigenden Energiepreise? Ihre Lkw müssen doch auch tanken.

Kohlpaintner: Auch das bereitet uns Sorgen, schließlich wickeln wir zirka 60 Prozent unserer Lieferungen mit eigenen Lkw und Fahrern ab. Aber als Händler können wir die Kostensteigerungen in der Regel an den Markt weitergeben. Denn bei unseren Kunden hat die Verfügbarkeit oberste Priorität. Sie fragen uns, ob wir liefern können.

Und können Sie?

Kohlpaintner: Bisher haben wir Zugang zu den relevanten Produkten, aber nicht immer zu allen, nicht immer in der gewünschten Menge und zum gewünschten Zeitpunkt. Das ist zurzeit die tägliche Herausforderung unserer Mitarbeitenden, wenigstens eine Teilmenge der bestellten Produkte an unsere Kunden zu liefern, damit die ihre Produktion am Laufen halten können. Als Weltmarktführer mit unserer breiten Aufstellung in 78 Ländern haben wir hier einen Beschaffungsvorteil, der sich insbesondere jetzt auszahlt.

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Herr Kohlpaintner, Sie sind jetzt seit gut zwei Jahren in Essen und haben die Führung der Brenntag zu Beginn der Corona-Krise übernommen. Haben Sie trotz Homeoffice schon alle Mitarbeitenden der Zentrale kennengelernt?

Kohlpaintner: Ich bin ein begeisterter Kantinengänger und hatte in der Mittagspause schon viele Kolleginnen und Kollegen getroffen. Ich hatte auch bereits einige unserer Standorte in Asien, den USA und in Europa besucht. Bis dann am 13. März 2020 schlagartig der Lockdown kam. Jetzt beginnen wir langsam wieder zu reisen. Am Wochenende geht es zu unseren Teams nach Texas und auf ein wichtiges Branchen-Treffen.

Sind Reisen angesichts virtueller Konferenzen überhaupt noch nötig?

Kohlpaintner: Es wird auf eine Kombination aus beidem hinauslaufen. Den Besuch in New York für eine eintägige Konferenz wird es sicher nicht mehr geben. Der persönliche Kontakt zu Kollegen, Kunden und Lieferanten ist aber weiterhin auch nötig und wichtig. Das kennen wir ja alle auch aus unserem Privatleben.

Welche Konsequenzen ziehen Sie persönlich daraus, dass mobiles Arbeiten plötzlich weltweit etabliert ist?

Kohlpaintner: Sicherheit steht bei uns an oberster Stelle. In unserer Zentrale in Essen sind wir sehr zurückhaltend mit Präsenzzeiten gewesen. Das war auch richtig so. Die Mehrzahl unserer Beschäftigten weltweit ist im operativen Bereich an unseren Standorten tätig, also zum Beispiel Lkw-Fahrer und Lageristen. Sie können nicht von ihrem Zuhause arbeiten. Aber der Wunsch nach mehr Flexibilität ist deutlich zu spüren. Viele Mitarbeitende können es aber auch nicht erwarten, sich wieder persönlich zu begegnen. Wir werden sorgfältig abwägen. Brenntag ist in 78 Ländern tätig, da müssen wir einen globalen Rahmen schaffen.

Leidet Ihr Unternehmen darunter, dass sich Mitarbeitende so selten begegnen?

Kohlpaintner: Die Kultur unseres Unternehmens darf nicht Schaden nehmen, weil es keinen Austausch mehr gibt. Die Mitarbeitenden müssen sich auch mal rückversichern können im direkten Miteinander. Das ist ganz wichtig. Wir sind nun einmal soziale Wesen. Deshalb plädiere ich für eine Mischung aus mobiler Arbeit und Präsenz im Büro.

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Brenntag hat für das Corona-Jahr 2021 eine Rekordbilanz mit einem um fast 30 Prozent gesteigerten operativen Ergebnis auf 1,4 Milliarden Euro vorgelegt. Macht sich in den guten Zahlen bemerkbar, dass Sie dem Unternehmen gleich nach Amtsantritt ein Transformationsprogramm verordnet haben?

Kohlpaintner: Das Transformationsprogramm hat sicher dazu beigetragen, war aber nicht alleiniger Faktor. Das „Project Brenntag“ ist auch nicht in erster Linie ein Kostensenkungsprogramm. In anderen Unternehmen der Chemiebranche, für die ich tätig war, habe ich als Kunde von Brenntag 25 Jahre auf der anderen Seite des Tischs gesessen und dabei die Notwendigkeit erkannt, dass Brenntag mehr tun muss, um seine Marktführerschaft auszuspielen. Unsere neue Aufstellung trägt dem Rechnung. Unsere Experten für Spezialchemikalien kümmern sich jetzt um Beratung und Vertrieb dieser Spezialitäten und Inhaltsstoffe und unsere Experten für Industriechemikalien wie Natronlauge kümmern sich um die effiziente und sichere Abwicklung dieser Massengüter.

925 der abzubauenden 1300 Stellen sind bereits weggefallen. Wie vermitteln Sie Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dass angesichts der guten wirtschaftlichen Lage Jobs gestrichen und Standorte geschlossen werden?

Kohlpaintner: Der Prozess ist sicherlich schmerzhaft für alle Beteiligten. Auch wenn er sozialverträglich stattfindet. Uns geht es aber nicht nur darum, Personal abzubauen, sondern darum, Doppelstrukturen, etwa in unseren Länderorganisationen, zu beseitigen. Und das verstehen unsere Mitarbeitenden. Ich bin zuversichtlich, dass wir die Transformation in der geplanten Zeit bis Ende 2023 abschließen können.

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Im vergangenen Herbst ist die Brenntag ins Oberhaus der deutschen Börse, den Dax 40 aufgestiegen. Was hat sich seither geändert?

Kohlpaintner: Die Listung im Dax 40 hat mich sehr gefreut, weil sie eine Anerkennung für alle Beschäftigten von Brenntag ist. Mitglied im Dax zu sein, ist für uns aber kein Selbstzweck, sondern Ansporn. Brenntag genießt jetzt mehr Aufmerksamkeit. Das spüren wir bei den Anfragen von Medien, aber auch beim wachsenden Interesse von Bewerberinnen und Bewerbern, für die es attraktiv ist, bei einem Dax-Konzern zu arbeiten.

Herr Kohlpaintner, Sie stammen aus Oberbayern. Wie blicken Sie auf das Ruhrgebiet?

Kohlpaintner: Als ich 1996 zur Ruhrchemie nach Oberhausen kam und damit ins Ruhrgebiet zog, eröffnete wenige Wochen später das Einkaufszentrum Centro. Damit konnte man den Strukturwandel im Ruhrgebiet mit Händen fassen. Diesen Wandel, der ohne den starken Willen der Region nicht möglich gewesen wäre, über die letzten zwanzig Jahre weiter voranschreiten zu sehen, war sehr faszinierend. Vielleicht bin ich auch deshalb so gern hier, weil die Mentalität des Ruhrgebiets der in Bayern ähnelt. Allerdings muss ich schon sagen, dass sich das Ruhrgebiet viel zu passiv verkauft. Da ist mehr drin.