Duisburg. . Der Chef der IG Metall erklärt, warum er starre Altersgrenzen für überholt hält, man längst länger arbeiten kann, die meisten aber früher aufhören wollen. DGB-Vorstoß der Teilrente ab 60 ein „kommunikatives Eigentor“. Jugendlichen soll der Staat einen Anspruch auf Ausbildung geben.

IG-Metall-Chef Detlef Wetzel hat eine Demografieabgabe für Unternehmen gefordert, die zu wenig in die Gesundheit ihrer Mitarbeiter investieren. Messen könne man das an den Zugängen von Beschäftigten eines Betriebs in die Erwerbsminderungsrente. Die beziehen Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr voll erwerbsfähig sind. „Firmen, die überdurchschnittlich viele Erwerbsminderungsrentner hervorbringen, sollten eine Demografieabgabe leisten, diejenigen mit weniger Erwerbsgeminderten entsprechend weniger“, sagte Wetzel im Gespräch mit unserer Redaktion. Auch in der Unfallversicherung würden Firmen mit größerer Gefährdung höher belastet. Die Abgabe wäre ein Anreiz für Unternehmen, sich um die Gesundheit besonders ihrer älteren Beschäftigten mehr zu kümmern.

Dass die Menschen länger fit und gesund bleiben, um ihren Beruf auch bis zur Rente ausüben zu können, sei eine der größten Herausforderungen des demografischen Wandels. Die Wirtschaft kümmere sich viel zu wenig darum: „Es gibt Unternehmen mit sehr guten Angeboten, aber in der Breite findet fast gar nichts statt. Da ist viel Prosa, aber wenig Handlung“, sagte Wetzel. „Deswegen wird die individuelle Arbeitszeitgestaltung ein großes Thema weit über die kommenden Tarifverhandlungen hinaus sein.“

Um dem demografischen Wandel zu begegnen, müsse sich der Staat zudem um jeden einzelnen Jugendlichen mehr kümmern. Wetzel fordert dazu „einen gesetzlichen Anspruch auf Ausbildung“. Zwar könne der Staat keinen betrieblichen Ausbildungsplatz garantieren, „aber er kann und muss sich nach meiner Überzeugung um jeden, der das nicht schafft, also schwächere Schüler, Ausbildungs- und Studienabbrecher kümmern. Jeder muss einen gesetzlichen Anspruch darauf haben, dass er da hingeführt wird, wo er bereit ist für eine Berufsausbildung“, sagte Wetzel.

Das Interview mit Detlef Wetzel im Wortlaut 

Der Chef der mächtigsten Gewerkschaft Europas wirkt tiefenentspannt beim Spaziergang um einen kleinen See im Duisburger Süden. So könnte er aussehen, der Ruhestand, tief durchatmen, Enten beobachten, und gleich ist Kaffeezeit. Wann und wie die Menschen künftig in Rente gehen sollen, treibt Detlef Wetzel um. Er selbst ist 61, will vor seinem Ruhestand aber noch den der arbeitenden Klasse regeln. Wie, darüber sprach Stefan Schulte mit ihm.

Herr Wetzel, wenn 2015 der nächste IG-Metall-Chef gewählt wird, dürften Sie eigentlich nicht mehr für vier Jahre kandidieren, weil sie in dieser Zeit 65 werden. Warum eigentlich? Sie wirken doch topfit.

Detlef Wetzel: Exakt müsste ich mit 65 Jahren und sieben Monaten aufhören, ganz nach gesetzlichem Rentenalter. Aber natürlich sind solche starren Werte überholt: Die einen wollen kürzer, die anderen länger arbeiten, ultimative Hürden passen nicht mehr in diese Zeit.

Warum haben wir sie dann noch? Kein Gesetz verbietet es, länger zu arbeiten, sondern Arbeits- und Tarifverträge. Sie wären also am Zug.

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Wetzel: Nein, sind wir nicht. Als die Debatte in Berlin aufkam, habe ich alle unsere Tarifverträge durchforsten lassen, und zu meiner eigenen Überraschung haben wir nur wenige Beendigungsklauseln gefunden. Es ist heute schon möglich, länger zu arbeiten, es müssen nur beide Seiten wollen.

Worüber redet die Politik dann?

Wetzel: Das ist eine Nebendebatte, die mit den wahren Problemen der Menschen nichts zu tun hat. Die Politiker, die darüber reden, dürften sich vorher ruhig mal informieren, wie die Realität aussieht. Sonst gehen sie den Arbeitgebern auf den Leim. Die bringen Eigeninteressen mit in die Debatte, wenn sie für die Weiterbeschäftigung Älterer die Sozialbeiträge erlassen haben wollen. Das finden wir nicht richtig, denn dann bekämen wir einen Verdrängungswettbewerb Alt gegen Jung.

Im Moment läuft es ohnehin umgekehrt: Seit dieser Woche können viele Menschen abschlagsfrei mit 63 in Rente gehen. Fachkräfte, die doch noch gebraucht werden.

Wetzel: Es sind auch schon vorher viele mit 63 in Rente gegangen, die meisten aus gesundheitlichen Gründen und mit Abschlägen. Wenn jemand 45 Jahre gearbeitet hat, kann man ihn doch nicht einen Frührentner nennen. Das neue Gesetz wird sich beim Thema Fachkräfte kaum bemerkbar machen, sondern positiv in den Portemonnaies der Menschen – weil sie keine Abschläge zahlen müssen – und das ist richtig so.

Hat die Arbeitsministerin den Verstand verloren?

Wetzel: Wie bitte?

Sie haben mal gesagt, wenn die Regierung Arbeitslosenzeiten in den beiden Jahren vor der Rente nicht gelten lässt, müssten Sie glauben, die Regierenden hätten den Verstand verloren.

Wetzel: Nun, wenn Menschen mit 61 entlassen werden, dann organisieren das die Arbeitgeber. Um dies zu verhindern, hätte man alle Sozialkosten den Arbeitgebern auferlegen müssen. Doch mit der Stichtagsregelung schiebt die Regierung das Problem allein den Arbeitnehmern zu, obwohl die doch die Opfer sind, wenn sie entlassen werden. Das ist eine völlig absurde Regelung. Die Arbeitgeber haben vor einer Frühverrentungswelle gewarnt, die nur sie selbst verursachen können. Das ist so, als würde der Bankräuber rufen: „Haltet den Dieb.“ Die Koalition ist darauf reingefallen. Viel Verstand kann ich da nicht erkennen.

Altersteilzeit ungleich besser als Teilrente mit 60

Nun fordert der DGB gar die Teilrente ab 60 – wie die FDP. Das wäre wegen der Abschläge nur etwas für Gutverdiener. Ist das Ihre Klientel?

Wetzel: Das war ein kommunikatives Eigentor. Es kam so rüber, als seien die Gewerkschaften grundsätzlich für eine Rente ab 60 – das wäre absurd. Nein, die Teilrente kann für einen kleinen Teil der Beschäftigten eine Lösung sein. Für deutlich mehr Beschäftigte ist die betriebliche Altersteilzeit das bessere Modell. Und wir brauchen noch weitere Modelle, um einen flexiblen Übergang in den Ruhestand zu ermöglichen, der die individuellen Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt.

Deshalb fordern Sie in der nächsten Metall-Tarifrunde einen neuen Altersteilzeit-Tarifvertrag.

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Wetzel: Ja, der alte läuft aus, weil die Rentengesetze geändert wurden. Das Wichtigste ist, ihn fortzuschreiben. Wir wollen dies zu besseren Bedingungen als bisher, aber das wird Gegenstand der Tarifverhandlungen sein. Kommende Woche stimmen wir in der IG Metall dazu die Eckpunkte ab.

Auch in der Metallindustrie nutzen laut Umfrage vor allem Arbeitnehmer mit besseren Einkommen die Altersteilzeit. Ist dieses Modell nicht auch nur etwas für jene, die es sich leisten können?

Wetzel: Das ist ein objektives Problem. Die Aufstockungen, die wir bisher durchsetzen konnten, waren offensichtlich nicht für alle hoch genug – je weniger man verdient, desto schwieriger wird es, in Altersteilzeit zu gehen. Diese Schieflage gibt es. Deshalb ist es unser Ziel, die Aufstockungen durch den Arbeitgeber zu verbessern. Aber die Metall-Altersteilzeit ist immer noch ungleich attraktiver als eine Teilrente mit 60 und 18 Prozent Abschlägen.

Rechtsanspruch auf Ausbildung

Wenn die Älteren früher gehen: Wo soll genug Nachwuchs herkommen, da doch jedes Jahr weniger junge Menschen die Schule verlassen?

Wetzel: Genau das ist die eigentliche Herausforderung der Demografie. Wir müssen uns um jeden einzelnen Jugendlichen kümmern, vor allem um die 15 bis 20 Prozent, die nach der Schule nicht reif für eine Ausbildung sind. Das kann sich unsere Gesellschaft nicht leisten.

Und was tun Sie dagegen?

Wetzel: Auch in NRW gibt es in der Metallindustrie tarifvertraglich geregelt die Möglichkeit, schwächere Jugendliche ein Jahr lang erst einmal fit zu machen für die Ausbildung. Die Unternehmen sollten diese Chance viel mehr nutzen.

Für gescheiterte Schüler kommen Sie doch aber in der Regel zu spät mit Ihren Programmen.

Wetzel: Wir können erst da ansetzen, wo junge Menschen zu uns kommen. Entscheidend ist die Bildungspolitik. Wir brauchen keine Debatte mehr über die Bildungsrepublik Deutschland, sondern Taten. Ich wäre für einen gesetzlichen Anspruch auf Ausbildung.

Der Staat soll einen Ausbildungsplatz garantieren? Wie das?

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Wetzel: Das kann er nicht, aber er kann und muss sich nach meiner Überzeugung um jeden, der das nicht schafft, also schwächere Schüler, Ausbildungs- und Studienabbrecher kümmern. Jeder muss einen gesetzlichen Anspruch darauf haben, dass er da hingeführt wird, wo er bereit ist für eine Berufsausbildung. Hinzu kommt, dass nur noch knapp jeder fünfte Betrieb ausbildet und gleichzeitig das Gejammer der Unternehmen nach Fachkräften groß ist.

Viele Geringqualifizierte stehen aber längst im Beruf.

Wetzel: Genau, deshalb wollen wir zusätzlich ein Recht auf Qualifizierungs-Teilzeit. Sie könnte vom Prinzip her wie die Altersteilzeit funktionieren: es gibt eine Arbeitsphase, aber statt der Ruhe- eine Qualifizierungsphase mit angepassten Bezügen. Die Beschäftigten verzichten für eine gewisse Zeit unterm Strich auf Geld, um sich zu verbessern. Wir wollen so beruflichen Aufstieg organisieren. Die Arbeitgeber müssten begeistert sein von unserem Modell. Wie jeder einzelne am besten mit seiner Zeit umgeht, ist die zentrale Frage der Zukunft – auch für junge Eltern und Menschen, die Angehörige pflegen. Wenn die Fachkräfte knapp werden, wird niemand mehr in einer Firma arbeiten wollen, die ihm das nicht ermöglicht. Wenn wir es aber hinkriegen, wäre dies ein entscheidender Beitrag zur Bewältigung des demografischen Wandels.