Essen. Der Essener Finanzexperte Reinhold Schnabel rechnet mit 233 statt 160 Milliarden Euro Kosten bis 2030, die die Regierung schätzt. Und die Signale, die davon ausgehen seien verheerend: Die Rentenpolitik der letzten 20 Jahre, so Schnabel, werde “teilweise zunichte gemacht“.
Die Zahl von 160 Milliarden Euro sprengt schon das Vorstellungsvermögen eines einfachen Bürgers. So viel sollen die Rentenreformen der Bundesregierung bis 2030 kosten - prognostiziert das Arbeitsministerium von Andrea Nahles (SPD).
Allerdings: Wenn Regierungen die Kosten ihres eigenen Tuns schätzen, neigen sie aus naheliegenden Gründen eher zur Untertreibung - zumindest war das in den vergangenen Jahrzehnten des Öfteren so. Der Finanzwissenschaftler Reinhold Schnabel hat nachgerechnet, was das Rentenpaket kostet - und tatsächlich kommt er auf 233 Milliarden.
250.000 mehr Frührentner
Schnabel lehrt an der Uni Duisburg-Essen, hat die beiden ersten Merkel-Regierungen beraten. Seine Renten-Rechnung fertigte er für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, eine marktliberale, arbeitgebernahe Lobbyorganisation.
Dass die zu anderen Ergebnissen kommt als eine SPD-Ministerin, mag nicht weiter verwundern. Allerdings sind Schnabels Annahmen für seine Rechnung nachvollziehbar, was bei der Regierungsprognose bisher nicht der Fall war.
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Die Kosten der Mütterrente mit zunächst 6,7 Milliarden Euro jährlich sind unstrittig, große Abweichungen gibt es aber bei der Rente mit 63. Die Regierung veranschlagt dafür zwei Milliarden Euro pro Jahr. Schnabel kommt auf die doppelte Summe und stützt sich auf Zahlen der Rentenversicherung.
Allein aus dem Jahrgang 1953 hätten 286.000 Menschen bereits im Alter von 58 Jahren 40 oder mehr Beitragsjahre vorweisen können. Wenn dieser Jahrgang 2016/17 das Alter von 63 erreiche, würden die meisten dieser Menschen in Rente gehen. Schnabel rechnet nach zwei Jahren mit 250.000 zusätzlichen Rentnern im Bestand, nach den veranschlagten Kosten der Regierung dürften es nur 100.000 sein. Dadurch entstünden Mehrkosten von 30 Milliarden Euro bis 2030.
1972 hat so gut wie keiner längert gearbeitet als er musste
Dabei stützt er sich auf die Erfahrung der 70er-Jahre. Die Reform von 1972 ermöglichte die abschlagsfreie Rente mit 63 nach 35 Versicherungsjahren. „Damals hat so gut wie keiner länger gearbeitet, 90 Prozent der Anspruchsberechtigten sind in Frührente gegangen“, sagt der Finanzexperte, „warum sollte das diesmal anders sein?“.
Das Bundesarbeitsministerium nennt die Studie „nicht nachvollziehbar“. Auf Anfrage dieser Zeitung nannte sie die Zahl von 200.000 Anspruchsberechtigten - pro Jahr. Aber: „Das heißt nicht, dass 200.000 nun früher als geplant in Rente gehen.“
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Zum einen bestehe die Möglichkeit „weiterzuarbeiten und so die Rentenansprüche zu erhöhen“, zum anderen gingen auch heute viele mit 63 in Rente, die dafür Abschläge in Kauf nehmen. Schnabel betont, dies würden aber immer weniger Menschen machen, weil das Rentenniveau sinkt.
Dazu rechnet der Finanzexperte Einnahmeausfälle der Sozialversicherungen und an Steuern von 43 Milliarden Euro. Wer zwei Jahre früher in Rente geht, zahlt auch zwei Jahre weniger in die Rentenversicherung und die Arbeitslosenversicherung ein sowie weniger bis gar keine Steuern.
Diese indirekten und doch genauso belastenden Kosten seien im Gesetzentwurf nicht berücksichtigt. Darin finde sich nur ein Hinweis auf Einnahmeausfälle der Rentenversicherung von 600 Millionen in 2030.
43 Milliarden Einnahmeausfälle
Die Steuerausfälle sind in der Tat nicht in die Rechnung des Ministeriums eingeflossen. Ein Sprecher betonte allerdings, dass die Steuerausfälle schon deshalb geringer ausfielen, weil die Renten künftig stärker besteuert würden als heute.
Das habe er berücksichtigt, betont Schnabel. Da die Rente aber niedriger sei als das Arbeitseinkommen und somit auch niedrigere Steuersätze angewendet würden, bleibe unterm Strich ein dickes Minus. „Die Reformen werden teurer als geplant. Die Rentenpolitik der letzten 20 Jahre, die Frühverrentungen deutlich verringert hat, wird teilweise zunichte gemacht.“