Essen. Nach dem Gesetzentwurf von Arbeitsministerin Nahles wäre es nach 45 Beitragsjahren möglich, Beschäftigte mit 61 zu entlassen, um nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit die volle Rente zu erhalten. Nahles und mehrere Gewerkschaften warnen die Arbeitgeber daher vor einem Missbrauch der Rente mit 63.
Über den Jugendwahn der 80er- und 90er-Jahre schimpfen die Arbeitgeber und Gewerkschafter von heute gleichermaßen. Millionen Ältere wurden aus dem Beruf gedrängt, weil nach einer Übergangsphase der Arbeitslosigkeit die ungekürzte Rente stand. Dass Deutschland mit den Plänen der Bundesregierung eine neue Welle der Frühverrentung bevorsteht, glaubt Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) offiziell nicht. Gleichwohl will ihr Ministerium genau das nun durch Nachbesserungen verhindern.
Nach dem aktuellen Gesetzentwurf wäre es nach 45 Beitragsjahren nicht nur möglich, mit 63 abschlagsfrei in Rente zu gehen. Sondern auch denkbar, Beschäftigte mit 61 zu entlassen, um nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit die volle Rente zu erhalten.
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Es trifft die Fachkräfte
Das würde auch wieder früher beginnende Altersteilzeit ermöglichen. Wer etwa mit 58 eine vierjährige Altersteilzeit begänne, wäre mit 60 raus aus dem Beruf, müsste mit 62 ein Jahr in die Arbeitslosigkeit gehen, um ebenfalls mit 63 sein ungekürztes Ruhegeld zu erhalten.
„Das trifft genau die Klientel, die uns fehlt: Facharbeiter“, sagt Luitwin Mallmann, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Metall NRW. Dabei habe man es „endlich geschafft, die Menschen länger im Beruf zu halten“. Nun befürchtet er einen Rückfall. Laut Bundesagentur für Arbeit gab es im Juni 2013 gut 1,6 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte zwischen 60 und 64 Jahren, das waren deutlich mehr als doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor.
Nahles und mehrere Gewerkschaften warnten zuletzt die Arbeitgeber vor einem Missbrauch der Rente mit 63. Ein wenig Sorge vor einer neuen Frühverrentungswelle scheinen sie also doch zu haben. Aber was heißt Missbrauch? „Wenn der Gesetzgeber diese Tür wieder öffnet, werden Unternehmen sie auch nutzen“, sagt Mallmann. Es würden „sicher Modelle zur Frühverrentung gestrickt, die eine Phase der Arbeitslosigkeit mit einkalkulieren“. Gerade aus Sicht von Unternehmen, die Stellen abbauen, sei das verständlich, insgesamt aber „das falsche Signal“.
Jeder dritte erfüllt Voraussetzungen für Rente mit 63
Deshalb begrüßt er, dass die Regierung dies noch verhindern will. Wie sie das anstellen will, bleibt aber offen. Es solle geprüft werden, „ob und wie eine Frühverrentung durch eine verfassungskonforme Regelung verhindert werden kann“. Das geht aus dem Begleitschreiben zum Gesetzentwurf hervor. Das „ob“ verrät bereits Zweifel, ob das rechtlich möglich ist. „Dies völlig zu unterbinden, wird nicht einfach sein“, sagte der Rentenexperte der CDU, Peter Weiß, dem Handelsblatt.
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Würden Jahre der Arbeitslosigkeit unmittelbar vor der Rente nicht gelten, wie es die Union vorschlägt, wäre das Problem gelöst. Doch darf der Gesetzgeber Phasen der Arbeitslosigkeit unterschiedlich behandeln? Einfacher wäre es, Arbeitgeber, die Ältere entlassen, zur Erstattung des Arbeitslosengeldes zu verpflichten. Doch das wäre immer noch billiger als eine Weiterbeschäftigung.
Die Unternehmen selbst haben noch keinen Überblick, wie viele ihrer Mitarbeiter ab Juli in Frührente gehen könnten, wie eine Umfrage dieser Redaktion ergab. Weder Konzerne noch mittelgroße Betriebe konnten Zahlen nennen. Thyssen-Krupp gab an, 693 Mitarbeiter zwischen 63 und 65 zu beschäftigen. Wie viele auf 45 Beitragsjahre kommen, weiß das Unternehmen aber nicht. Auch die Rentenversicherung hat keine Zahlen.
Eine Annäherung: 700 000 Beschäftigte waren vor einem halben Jahr 62 bis 64 Jahre alt. Laut DGB erfüllt etwa jeder dritte die Voraussetzung für die Rente mit 63. Demnach stünde bei 230 000 Menschen der Ruhestand unmittelbar bevor, weil sie bald 63 werden oder bereits sind. Rund 300 000 kämen für eine Frühverrentung über den Umweg der Arbeitslosigkeit ab 61 infrage.