Essen. Erst die Mütterrente, dann die Rolle rückwärts bei der Rente mit 67: Die Rechnung für ihre Rentenreform hinterlässt die große Koalition den Beitragszahlern von heute und morgen. Sie müssen mehr zahlen und erhalten selbst noch weniger Rente als bisher befürchtet. Eine Analyse.

Über Wahlgeschenke lässt sich immer streiten. Doch bei den Rentenreformen geht es um mehr. Die Union will die Mütterrenten erhöhen, die SPD die ungeliebte Rente mit 67 zurückdrehen. Beides zusammen ergibt aber nicht einfach zwei eingelöste Wahlversprechen, sondern einen unwiderruflichen Bruch mit dem Grundprinzip unserer Rentenversicherung – der Generationengerechtigkeit.

Das gilt unabhängig davon, ob man höhere Mütterrenten für richtig hält und Menschen, die 45 Jahre gearbeitet haben, eine frühere Rente gönnt. Wenn die Politik das Geld dafür über Steuern auftreibt, kann sie das machen. Doch zahlen lässt sie die heutigen und noch mehr die künftigen Angestellten über ihre Beiträge. Bis 2030 müssen sie unfassbare 160 Milliarden Euro dafür aufbringen. Dazu sinken ihre Rentenansprüche noch stärker als ohnehin schon geplant. Die junge Generation wird also doppelt bestraft.

Das Ur-Prinzip der Rentenversicherung

Generationengerechtigkeit in der Rente ist nicht einfach ein moralischer Begriff, sondern das Ur-Prinzip der Versicherung seit ihrer Gründung 1957. Sie funktioniert nach dem Umlagesystem. Die Rentner leben nicht vom eigenen Ersparten, sondern von den Beiträgen der arbeitenden Bevölkerung. Diese werden jeden Monat sofort als Renten wieder ausgegeben. Dafür unerlässlich ist das Vertrauen der Beitragszahler darauf, dass auch ihre Renten dereinst von den nachfolgenden Generationen bezahlt werden.

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Von Christian Kerl und Wolfgang Mulke

Zweitens müssen sie sich darauf verlassen können, dass sie nicht mehr Beiträge zahlen als notwendig. Ist Geld in der Rentenkasse übrig, müssen die Beiträge sinken und dürfen nicht einfach für andere Dinge ausgegeben werden. Deshalb werden Renten, die allein aus Gerechtigkeitsgründen gezahlt werden, etwa die Kriegs-, Witwen- oder Mütterrenten, aus Steuern und nicht aus Beiträgen finanziert.

Kinder und Enkel müssen die Wahlgeschenke bezahlen

Diese Regel wirft die Koalition nun bei der Mütterrente über den Haufen. Die jährlich benötigten 6,7 Milliarden Euro nimmt sie aus der Rentenkasse, die derzeit gut gefüllt ist. Der Beitragssatz, der eigentlich auf 18,3 Prozent hätte sinken müssen, bleibt bei 18,9 Prozent. In vier bis fünf Jahren, wenn die Rücklagen verfrühstückt sind, steigt er sprunghaft auf 19,7 und bis 2030 auf 22,0 Prozent. Wachsende Steuerzuschüsse von 400 Millionen (ab 2019) bis zwei Milliarden Euro kommen obendrauf. Die Koalition überlässt damit die Finanzierung ihrer Wahlgeschenke komplett den nachfolgenden Generationen.

Um die Tragweite des Systembruchs zu verstehen, lohnt ein Blick zurück: Zum Ende der Ära Kohl stand die Rente vor dem Kollaps. 1998 war der Beitragssatz auf den Rekord von 20,3 Prozent gestiegen. Der Generationenvertrag kam bereits an seine Grenzen, bevor die Alterung der Gesellschaft begonnen hatte. Weil klar war, dass immer weniger Beschäftigte immer mehr Renten bezahlen und damit die Beiträge explodieren müssten, rang sich Rot-Grün zu schmerzhaften Reformen durch. Das Niveau der Renten wurde langfristig abgesenkt, gleichzeitig Frühverrentungen ein Riegel vorgeschoben. 2005 legte die Große Koalition die Rente mit 67 nach, die Menschen sollten länger arbeiten und Beiträge zahlen, um das System stabil zu halten.

Jede Delle oder Krise verschärft die Altersarmut

Diese Reformen waren unpopulär, aber wirksam. Die Frühverrentungswelle ebbte ab, der Beitragssatz sank. Unter den Volksparteien herrschte Einigkeit, dass es anders nicht ginge. Dieselben Parteien machen nun auf dem Absatz kehrt und ermöglichen wieder die Rente mit 63. Eigentlich geplant nur für Menschen, die 45 Jahre gearbeitet haben, sollen nun auch Zeiten der Arbeitslosigkeit angerechnet werden. Das ermöglicht es Arbeitgebern, Beschäftigte mit 61 zu entlassen, so dass diese nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit abschlagsfrei in Rente gehen können. Eine Unart, gegen die sämtliche Sozialminister seit Norbert Blüm angekämpft haben. Kehrt sie zurück, stemmen auch das allein die Jungen.

Die Großkoalitionäre nehmen all dies bewusst in Kauf, sie wissen sehr wohl, was das langfristig mit den Renten macht. Es steht sogar im Gesetzentwurf von Sozialministerin Andrea Nahles (SPD): „Das Sicherungsniveau vor Steuern fällt somit geringer aus“, heißt es darin. Konkret heißt das: Die künftigen Rentenerhöhungen fallen kleiner aus. Weil der Beitragssatz nicht sinkt und die Ausgaben steigen, greift die Rentenformel dämpfend ein. Das bekommen auch die heutigen Rentner zu spüren, besonders aber die künftigen. Denn das Rentenniveau sinkt dadurch schneller als geplant – laut Entwurf bis 2030 auf 43,7 statt 44,4 Prozent. Eine stabile Konjunktur und Beschäftigung vorausgesetzt. Bei jeder Delle oder gar Krise geht’s weiter runter. Damit vergrößert die Koalition nebenbei das perspektivisch größte Problem, das sie eigentlich bekämpfen wollte: die Altersarmut.

Für die junge Generation lautet die Bilanz: Sie muss mehr zahlen, wird selbst weniger Rente erhalten und darf sich in zehn, 15 Jahren um die Folgen der steigenden Altersarmut kümmern. Die meisten der heute Regierenden werden dann längst im Ruhestand sein. Deren Pensionen darf sie auch zahlen.