Brüssel. Politiker im Kampf gegen die Schuldenkrise achten zu wenig auf die Unterschiede in Europa - das sagt der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser. Von Vorurteilen wie „die fleißigen Deutschen“ oder “die faulen Griechen“ hält er gar nichts. Er fürchtet vielmehr, dass die Währungsunion zerbrechen wird.

Ein beliebtes Klischee in der Schuldenkrise besagt, dass Südeuropäer nicht mit Geld umgehen können. Der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser widerspricht solchen Vorurteilen energisch. Er sieht eher unterschiedliche Wirtschaftskulturen. Diese ließen sich nur langsam verändern.

Der Professor für Geschichtswissenschaft an der Universität Bielefeld verweist auf Unterschiede, wie der Euro beurteilt wird. „Für die sogenannten Hartwährungs-Länder – Deutschland, die Niederlande, Finnland, Österreich – hat traditionell eine stabile Währung oberste Priorität.“ Das sei kein Wunder: „Diese Staaten haben eine exportorientierte Wirtschaft, die fähig ist zur kundenorientierten Fertigung von komplizierten Industrieanlagen, intelligenten Maschinen oder hochwertigen Fahrzeugen ist.“ Für diese Produktionsweise – „eine Art Qualitäts-Maßschneiderei“ – seien stabile Verhältnisse und langfristige Kundenbeziehungen wichtig.

„Die Südeuropäer haben andere Erfahrungen gemacht“, sagt der Historiker. „Ihre weichen Währungen halfen ihrer Wirtschaft wiederholt, wieder auf die Spur zu kommen.“

Feste Wechselkurse der alten Währung machten alle Länder stabil

Um das zu erklären, blickt er zurück. Vor der Einführung des Euro gab es in Europa ein System der festen Wechselkurse. Wurden zum Beispiel in Frankreich oder Italien das Haushaltsloch („Defizit“) zu groß, stiegen diese Länder aus diesem System aus. Dann werteten sie ihre Währung ab und starteten Reformen. Lief ihre Wirtschaft wieder, klinkten sie sich erneut ins Wechselkurs-System ein.

Doch das allein erklärt aus Sicht des Professors nicht die Unterschiede in Europa. Er nimmt die politische Ebene hinzu.

"Wenn der Staat schwach ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch"

„Die südeuropäischen Krisenländer Griechenland, Portugal, Spanien und Italien haben eines gemein: Es sind alles postfaschistische Staaten; sie haben also faschistische Diktaturen erlebt“, sagt Abelshauser.

„Bevor die Diktatoren kamen, war der Staat in diesen Ländern relativ schwach. Die Faschisten wollten den Staat stärken. Sie scheiterten.“ Die Europäer hätten diese Länder dann in ihre Gemeinschaft aufgenommen, um die Staaten politisch zu stabilisieren. „Aber das Problem in diesen Ländern blieb bestehen: Die Schwäche des Staates.“

Dies sei ein entscheidender Punkt. „Wenn der Staat schwach ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Dann ist es schwieriger für die Politiker, Löcher in der Staatskasse zu stopfen oder die Korruption zu bekämpfen.“ Hierzulande sei der Staat dagegen traditionell stark: „In Deutschland wurde die Wirtschaftspolitik im 19. Jahrhundert stark vom Staat angeheizt.“

Mächtige Industrie steht altmodischen Familienbetrieben gegenüber 

So bildeten sich unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen in Europa heraus, sagt Abelshauser. In Südeuropa gebe es vor allem Familienbetriebe, Handel und – eine meist altmodisch organisierte – Landwirtschaft.

In Deutschland sei die Landwirtschaft von einer mächtigen Industrie mitgezogen worden. „Moderne Düngersorten und Maschinen kamen zum Einsatz“, sagt Abelshauser. „In Spanien, Portugal oder in Italien war das nicht so. Dort fehlte eine starke Industrie. Doch aus so einer Industrie kristallisiert sich Spezialwissen heraus, die Verbindung von Wirtschaft und Wissenschaft.“

Einheitliche europaweite Regeln sind nicht von Jetzt auf Gleich umsetzbar

Aus Abelshausers Sicht entstand ein „Kerneuropa“. „Dazu gehören Deutschland, Skandinavien, Belgien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich und Norditalien“, sagt er. „Norditalien ist anders als der Süden des Landes seit Jahrhunderten mit Kontinentaleuropa verflochten.“ Im „Kerneuropa“ ähnelten sich Denkweisen, Verhalten, Spielregeln und die Organisation der Wirtschaft. „In den südeuropäischen Mittelmeer-Ländern ist das anders“, sagt er. „Auch in Mittel- und Osteuropa sowie in Großbritannien ist die Wirtschaftskultur eine andere.“

Kritisch sieht der Historiker, dass Europas Politiker nun einheitliche Regeln anstrebten. „Es ist eine Illusion, zu glauben, man könne Wirtschaftskulturen schnell verändern“, sagt er. „Stattdessen sollten die Politiker diese unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen ernst nehmen und fördern. So kann sich jedes Land auf das konzentrieren, worin es stark ist beziehungsweise stark werden kann.“

Unterschiede zwischen Staaten sind überbrückbar

Unterschiede in Europa müssten betrachtet und beachtet werden. Vorurteile wie „Der Grieche ist faul, der Deutsche ist fleißig, der Spanier ist stolz“ hält der Professor aber für falsch. „Die individuellen Mentalitäten sind in Europa relativ ähnlich“, sagt er. „Zudem darf man nicht vergessen: Jemand kann nur produktiv und innovativ werden, wenn er in einer funktionierenden Wirtschaftsstruktur tätig sein kann.“

Er betrachtet eher die „kollektiven Mentalitäten“: „Hier geht es um die Funktionsfähigkeit eines Staats“, sagt Abelshauser. Da gebe es in Europa Unterschiede. „Sie sind aber überbrückbar. Ein Beispiel sind die europaweiten Obergrenzen für das Staatshaushalts-Defizit und den Schuldenstand.“

Doch die Politiker hätten Folgendes nicht bedacht. „Es gibt in Europa unterschiedliche Denkweisen und Spielregeln“, sagt der Professor. „Die Bereitschaft, Spielregeln zu akzeptieren, ist aus historischen Gründen unterschiedlich ausgeprägt.“

Im schlimmsten Fall könnte die Union zerbrechen 

„Die Deutschen setzen eher auf staatliche Eingriffe“, sagt Abelshauser. „Sie haben damit gute Erfahrungen gemacht, bis heute. Man ist hier also gewillter, Regeln zu akzeptieren.“ Den südeuropäischen Mittelmeerraum wiederum kennzeichne das jahrelange Fehlen einer starken staatlichen Autorität und Regelungsfähigkeit. „Die Kultur zur Akzeptanz von Regeln existiert nicht so stark wie in Deutschland.“

Daraus zieht der Historiker Schlüsse. Denkbar sei eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik. „Das Ziel darf aber nicht sein, alles zu vereinheitlichen. Das Ziel müsste sein, die Stärken und Vorteile der einzelnen Staaten herauszuarbeiten.“

„Gerade geschieht aber das Gegenteil, auch auf Druck von Deutschland: Eine breite Harmonisierung“, kritisiert der Experte. „Doch die Politiker können die verschiedenen Wirtschaftskulturen nicht so schnell verändern, wie sie das anstreben“, sagt er. „Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dass die Euro-Währungsunion zerbrechen wird.“