Essen/Düsseldorf. Die Zurückhaltung ist aufgekündigt: In den anstehenden Tarifrunden der Metall- und Elektroindustrie sowie im öffentlichen Dienst wollen sich die Gewerkschaften einen kräftigen Nachschlag für das wirtschaftliche Boomjahr 2011 holen. Tarifexperten erwarten eine konfliktreiche Tarifrunde.

Die tarifpolitische Welt in NRW dreht sich am heutigen Donnerstag um den kleinen Ort Sprockhövel am Rande des Ruhrgebiets. Dort trifft sich die IG Metall in ihrem Bildungszentrum, um die Marschroute für die Tarifrunde 2012 in der Metall- und Elektroindustrie festzuzurren.

Überraschungen dürfte es dabei kaum geben. Auch der NRW-Bezirk wird sich wohl an der Empfehlung der IG-Metall-Spitze orientieren, die gern mit einer kräftigen Lohnforderung von 6,5 Prozent in den Tarifkampf ziehen möchte. Am 14. März starten die Lohnverhandlungen für 700.000 Beschäftigte in NRW. Sie werden auch für andere Branchen richtungsweisend sein.

Schon am 1. März setzt sich die Gewerkschaft Verdi mit den Arbeitgebern von Bund und Kommunen zusammen, um über die Löhne für die bundesweit knapp 1,3 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst zu verhandeln. Auch Verdi hat die Forderungslatte mit 6,5 Prozent hoch gelegt.

Es ist der Auftakt in ein tarifpolitisch spannendes Jahr. Neben der Metall- und Elektroindustrie und dem öffentlichen Dienst folgen noch Tarifrunden unter anderem bei der Telekom, in der Chemischen Industrie und bei den Banken.

Die in der Krise geübte Zurückhaltung der Gewerkschaften ist spätestens mit dem Boomjahr 2011 aufgekündigt. Nun gilt es, zum großen Nachschlag zu rüsten. „Die Erwartungshaltung der Beschäftigten auf einen kräftigen Schluck aus der Pulle ist hoch und das zu recht“, sagte Reinhard Bispinck, Leiter des Tarifarchivs der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, gegenüber DerWesten.

Hohe Inflation frisst Lohnplus auf

Trotz der guten wirtschaftlichen Entwicklung im vergangenen Jahr seien die Tariflöhne nur um zwei Prozent gestiegen. Zieht man die Inflation ab, blieb den Arbeitnehmern unter dem Strich ein Minus von 0,3 Prozent, so der Tarifexperte. Auch bei den tatsächlich gezahlten Bruttolöhnen ergab sich nach Abzug der Teuerung nur ein kleines Plus von 1,1 Prozent, wie Bispinck errechnete. Auf die vergangenen Jahre geblickt, seien die Bruttolöhne 2011 sogar um drei Prozent hinter dem Niveau von 2000 zurückgeblieben.

Allerdings treffen die Forderungen der Gewerkschaften auf eine abflauende Konjunktur. Bereits im letzten Quartal 2011 war die deutsche Wirtschaft geschrumpft. Führende Wirtschaftsforscher erwarten 2012 nur noch ein Mini-Wachstum der deutschen Wirtschaft. Die Arbeitgeber mahnen.

Auch Roland Döhrn, Tarifexperte beim Rheinisch Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen, rät zu einer gemäßigten Tarifrunde, die Arbeitsplätze nicht gefährdet. Er hält Abschlüsse zwischen 2 und 2,5 Prozent für vernünftig.

Dringender Nachholbedarf

Die IG Metall sieht dennoch keinen Grund zur Zurückhaltung. Zum einen entwickle sich gerade der Maschinenbau weiterhin gut, zum anderen „muss auch ein Blick in den Rückspiegel erlaubt sein, wenn es um einen fairen Abschluss geht“, sagte NRWs IG-Metall-Sprecher Wolfgang Nettelstroth. 2010 war die IG Metall noch im Bann der Krise zu Zugeständnissen bereit gewesen. Und so gab es im April 2011 aus Sicht der Gewerkschaft für die Metaller nur ein bescheidenes Lohnplus von 2,7 Prozent. „Nun müssen sich die goldumrandeten Bilanzen der Unternehmen in guten Bilanzen für die Beschäftigten niederschlagen“, fordert Nettelstroth.

Auch im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen sieht die Gewerkschaft dringenden Nachholbedarf, wie Verdi-Sprecher Günter Isemeyer betont. Der letzte Tarifabschluss, der erst durch Schlichtung zustande kam, brachte ein vergleichsweise mageres Plus. Das „Totschlag-Argument“ leere Kassen will die Gewerkschaft auf keinen Fall akzeptieren. Schließlich flossen 2011 wieder so viele Steuern wie vor der Krise in die öffentlichen Haushalte.

Verdi droht mit streikenden Müllmännern und Busfahrern

Bispinck erwartet unterm Strich eine konfliktreiche Tarifrunde. Denn die Metall- und Elektroindustrie verhandelt nicht nur über den Lohn sondern auch über die Mitbestimmung bei Leiharbeit in den Betrieben sowie die garantierte Übernahme von Azubis nach der Lehre. Ein dickes Paket mit allerlei Konfliktpotenzial, wie auch die Gewerkschaft weiß. Sollten sich die Arbeitgeber zu wenig bewegen, könnte es in der Branche ab 2. Mai zum Arbeitskampf kommen.

Den schließt auch Verdi bei ihren Verhandlungen im öffentlichen Dienst nicht aus. Streikende Müllmänner, stehende Busse – das könnte es theoretisch schon ab 1. März geben, denn dann endet die Friedenspflicht. „Wir wollen ein schnelles Ergebnis, aber wir scheuen auch den Konflikt nicht“, droht Isemeyer an die Adresse der Arbeitgeber.