Essen. Gewerkschaft berichtet von Frust bei vielen Beschäftigten in der Industrie. IGBCE-Chef Vassiliadis sieht Handlungsbedarf.

Industriebeschäftigte nehmen in Deutschland laut einer Umfrage der Gewerkschaft IGBCE ein hohes Maß an Unkenntnis, Desinteresse und mangelnder Wertschätzung für ihre Arbeit wahr. Eine Mehrheit der Befragten kritisiere, Belange und Sichtweisen von Arbeitnehmern in der Industrie würden in Politik, Gesellschaft und Massenmedien nicht ausreichend berücksichtigt.

An der Erhebung haben sich laut IGBCE mehr als 4200 Mitglieder aus allen Branchen im Organisationsbereich der zweitgrößten deutschen Industriegewerkschaft beteiligt. Die Ergebnisse seien damit aussagekräftig für Beschäftigte in der Industrie insgesamt. Zu den Tätigkeitsfeldern der Gewerkschaft gehören Branchen wie die Chemie-, Pharma- und Energieindustrie – und damit große deutschen Konzerne wie Bayer, BASF, Covestro, Evonik und im Energiesektor Eon sowie RWE.

Frust bei Beschäftigten angesichts mangelnder Wertschätzung

Die Industriearbeit in Deutschland habe, so der Eindruck der Befragten, stark an Renommee eingebüßt, berichtet die IGBCE unter Berufung auf die Umfrageergebnisse. Gut zwei Drittel (67 Prozent) geben demnach an, die Wertschätzung für Jobs in der Industrie falle in der Gesellschaft heute „eher“ gering oder sogar „sehr“ gering aus. 69 Prozent der Umfrage-Beteiligten sehen laut IGBCE ihre Belange und Sichtweisen als Industriebeschäftigte in gesellschaftlichen Diskussionen eher oder gar nicht ausreichend berücksichtigt.

Der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis zeigt Verständnis für Unzufriedenheit vieler Beschäftigter in der Industrie. „Ausgerechnet diejenigen, die die klimagerechte Transformation unseres Industriestandorts in der Praxis vorantreiben sollen, finden nicht ausreichend Gehör und fühlen sich übergangen“, sagt Vassiliadis.
Der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis zeigt Verständnis für Unzufriedenheit vieler Beschäftigter in der Industrie. „Ausgerechnet diejenigen, die die klimagerechte Transformation unseres Industriestandorts in der Praxis vorantreiben sollen, finden nicht ausreichend Gehör und fühlen sich übergangen“, sagt Vassiliadis. © dpa | Moritz Frankenberg

80 Prozent kritisieren nach Angaben der Gewerkschaft in der Umfrage, über die Themen von Industriebeschäftigten werde in den Massenmedien nicht ausreichend berichtet. 70 Prozent beklagen zudem eine „eher“ oder „sehr“ verzerrte Berichterstattung. Noch heftiger falle das Urteil über die Politik aus: Dort sei Verständnis für die Themen von Industriebeschäftigten „eher“ oder „sehr“ gering, sagen zusammen 84 Prozent der Befragten.

Auffallend sei, dass die Ergebnisse unter den in der Produktion Beschäftigten besonders negativ ausfielen. In dieser Gruppe kritisierten demnach 42 Prozent ein „sehr geringes“ Verständnis“ in der Politik für ihre Belange, weitere 46 Prozent ein „eher geringes“. Zudem blickten nach Angaben der IGBCE Beschäftigte in der zweiten Hälfte ihres Arbeitslebens tendenziell kritischer auf die öffentliche Wahrnehmung als ihre jüngeren Kolleginnen und Kollegen. Männer seien tendenziell skeptischer als Frauen.

Nach Einschätzung des IGBCE-Vorsitzenden Michael Vassiliadis sollten die Umfrageergebnisse zu denken geben. Die Gesellschaft in Deutschland sei „dem eigenen Wohlstandsgaranten in Teilen offensichtlich weit entrückt“, sagt Vassiliadis. „Ausgerechnet diejenigen, die die klimagerechte Transformation unseres Industriestandorts in der Praxis vorantreiben sollen, finden nicht ausreichend Gehör und fühlen sich übergangen. Das ist eine fatale Fehlentwicklung, die wir dringend umkehren müssen“, mahnt der IGBCE-Vorsitzende.

Vassiliadis: „Die Unternehmen müssen mehr tun“

Auch in der Industrie selbst sieht Vassiliadis Handlungsbedarf. „Die Unternehmen müssen mehr tun für die Sichtbarkeit und Attraktivität ihrer Branchen als Arbeitgeber und sich stärker öffnen für industrieferne Schichten in der Bevölkerung“, sagt er. „Andernfalls werden sie im Zuge eines sich verschärfenden Fachkräftemangels den Anschluss verlieren.“

Bemerkenswert ist: Die Verbundenheit zur eigenen Arbeit ist nach Angaben der IGBCE bei den Industriebeschäftigten mehrheitlich hoch. Die Befragten konnten hier in mehreren Bereichen jeweils von eins (keine Identifikation) bis zehn (100 Prozent Identifikation) Punkte vergeben. Bei der Verbundenheit zur eigenen Branche vergaben laut Gewerkschaft zwei Drittel der Befragten eine acht, neun oder zehn. Der Durchschnittswert habe bei 7,7 gelegen. Besonders hoch sei die Identifikation bei Beschäftigten des Bergbaus, der Energiewirtschaft und der Pharmaindustrie, besonders niedrig bei Kautschuk-, Papier- und Kunststoffbranche. Die Beschäftigten hätten einen differenzierten Blick auf ihren Job: Am höchsten sei die Identifikation mit dem eigenen Beruf (im Durchschnitt: 8,15), am niedrigsten mit dem eigenen Arbeitgeber (6,3).

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