Unna. 600.000 Arbeitnehmer in NRW pflegen einen Angehörigen - oft unter enormem Stress. Ein Unternehmer aus NRW zeigt, wie es anders geht.

Ludger Osterkamp gibt gern zu, dass er ein bisschen verrückt ist. Zum Beweis erzählt der Firmenchef aus Unna von einem Rollstuhl, den er ohne Erklärung in den Flur seines Betriebsgebäudes gestellt habe. Die rund 100 Mitarbeiter seines Unternehmens ExTox sollten stutzen, sich hineinsetzen, aber vor allem: den Rollstuhl als eine ganz gewöhnliche Sache ansehen.

„Ich wollte zeigen, dass Krankheit und Alter zum Leben und damit auch zur Arbeit dazugehören“, sagt der 68-jährige Elektrotechnik-Ingenieur und Wirtschaftswissenschaftler, dessen Firma Gasmess-Systeme entwickelt und einbaut. „Man muss dieses Tabu brechen, das Pflege immer noch ist. Normalerweise geht doch keiner zum Chef und sagt, dass der eigene Vater dement wird und man den bald pflegen muss. Aber warum nicht?“ Osterkamp will es anders machen und gehört damit zu einem der wenigen Unternehmer in NRW, die sich offen für eine bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf engagieren.

600.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in NRW pflegen zu Hause einen Angehörigen

In NRW leben über eine Million pflegebedürftige Menschen. 86 Prozent und damit die allermeisten von ihnen werden zu Hause versorgt. Auch weil Pflegedienste zunehmend schwer und professionelle Angebote wie Tagespflegenkaum noch zu haben sind, lastet die Pflege dieser Menschen nicht selten allein auf den Schultern der Angehörigen. Rund 600.000 von ihnen, so eine Berechnung für NRW, pflegen und gehen weiter ihrem Beruf nach.

Der Elektrotechnik-Ingenieur und Wirtschaftswissenschaftler Ludger Ostermann (68) hat sich selbst fortbilden lassen, um pflegende Angehörige besser zu unterstützen.
Der Elektrotechnik-Ingenieur und Wirtschaftswissenschaftler Ludger Ostermann (68) hat sich selbst fortbilden lassen, um pflegende Angehörige besser zu unterstützen. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Der Spagat ist gewaltig: Hauptpflegepersonen sind bis zu sieben Stunden pro Tag für ihre Angehörigen im Einsatz und sind trotzdem mehrheitlich berufstätig - 28 Prozent laut Bundesfamilienministerium sogar in Vollzeit. Häufiger aber reduzieren Pflegende ihre Arbeitszeit, geben den Job ganz auf oder verzichten auf eigene Ruhezeiten und brennen schnell aus. Mit Folgen: 81 Prozent der Pflegepersonen fühlen sich oft erschöpft, 56 Prozent haben einen schlechteren subjektiven Gesundheitszustand. Die Problematik gewinnt an Relevanz, weil die Zahl Pflegebeüdrfitger stärker wächst als das Angebot und Angehörige häufiger einspringen. Zugleich erhöht der Fachkräftemangel den Druck auf Unternehmer, Beschäftigte zu halten.

Knapp 400 Firmen bekennen sich zur besseren Vereinbarkeit von Pflege und Beruf

Um auf ihre Belastung aufmerksam zu machen, hat das Land NRW 2022 ein Programm zur besseren Vereinbarkeit von Pflege und Beruf ins Leben gerufen. Kern des Programms ist eine Charta und das Angebot, Mitarbeiter kostenfrei zu Pflege-Guides fortbilden zu lassen. Diese Guides sollen Ansprechpartner für pflegende Angehörige in den Betrieben sein, über Beratungen und Hilfen wie die Pflegezeitinformieren.

Bislang haben sich rund 390 Arbeitgeber zu mehr Unterstützung für pflegende Angehörige bekannt - ein Erfolg, werten Projektverantwortliche. Tausende Beschäftigte könnten so von Angeboten „pflegefreundlicher“ Unternehmen profitieren. Dazu zählen vor allem öffentliche Arbeitgeber, aber auch einige Betriebe wie ExTox in Unna.

Angehörige: Pflege in den meisten Chefetagen angekommen

Unternehmen gehen sehr unterschiedlich mit ihren pflegenden Beschäftigten um. Das ist in einer Befragung des Instituts für Arbeit und Technik (IAT) von 2023 deutlich geworden. Danach halten Unternehmen mit einem hohen Frauenanteil unter den Beschäftigten das Thema zwar für wichtiger, aber fast alle befragten Firmen haben Erfahrungen mit Pflege gemacht und beschreiben Herausforderungen. Sie reagieren mit flexiblen Arbeitszeitmodellen, Homeoffice, Informationsangeboten oder sogar Teilzeitstellen für Führungskräfte.

Das Thema sei in den meisten Chefetagen angekommen, bestätigt der Verein „Wir pflegen“, der bundesweit Angehörigen eine Stimme gibt. Das größte Problem für Betroffene sei die unzureichende Pflegeinfrastruktur. Es fehlten beispielsweise Tagespflegeplätze, die Berufstätigkeit ermöglichen.

Der 68-jährige Ingenieur Osterkamp hat das Unternehmen 2004 gegründet, heute findet man seine Gasmessgeräte in Eissporthallen, bei Biogasbauern oder in Fabrikhallen von Autobauern. Weil Osterkamp seinen Betrieb auf ungewöhnliche Weise führt, sind schon überregionale Medien auf ihn aufmerksam geworden. Bei ExTox gibt es eine Wohlfühlmanagerin, Eltern werden zum Arbeitsplatzbesuch ihrer erwachsenen Kinder eingeladen, Mitarbeiter am Gewinn beteiligt, und eh jemand eingestelt wird, muss die gesamte Belegschaft dem zustimmen. Immerhin arbeitet man ja zusammen.

Schon 2014 machte Osterkamp zudem Pflege zu einem weiteren Thema: „Die Sache ist einfach. Wir sind ein familienfreundliches Unternehmen, da gehört Pflege dazu.“ Der Chef selbst ließ sich zusammen mit einem seiner Mitarbeiter zum Pflegebegleiter ausbilden. Anders als bei den Guides dauert dieser wöchentliche Lehrgang sogar drei Monate, in denen rechtliche Grundlagen und Einblicke in die Praxis vermittelt werden. Osterkamp beginnt darauf, im Betrieb von seiner Mutter im Heim zu erzählen und gewinnt so das Vertrauen seiner Mitarbeiter. Und mehr noch: „Wenn ich merke, dass pflegende Angehörige das brauchen, gebe ich ihnen auch frei.“ Das rechne sich, sagt Osterkamp. „Was sind zwei Wochen gegen 40 Jahre im Betrieb? Am Ende ist der Erfolg programmiert, wenn die Leute gerne kommen.“

Ich habe gesehen, wie sich pflegende Angehörige aufreiben. Ich habe Familien zugrunde gehen sehen.
Olaf Kayser - Altenpfleger und nun Mitarbeiter von ExTox

Olaf Kayser hat davon profitiert. Der 53-Jährige ist examinierter Altenpfleger. Nach einem Burnout hat er bei ExTox den Neuanfang geschafft, arbeitet im Vertrieb und Lager. „Ich habe gesehen, wie sich pflegende Angehörige aufreiben. Ich habe Familien zugrunde gehen sehen.“

Er selbst spürte diese Belastung vor einigen Jahren. Immer wieder musste er kurzfristig zu seiner krebskranken Mutter und dabei die Arbeit unterbrechen. „Ich war zwei Wochen lang nicht fähig zu arbeiten“, sagt Kayser. In anderen Betrieben hätte er wohl kündigen müssen oder wäre durch das Hin und Her wieder krank geworden ohne, vermutet er. „Hier hat man mich verstanden und ich musste mich nicht groß rechtfertigen.“

Olaf Kayser engagiert sich selbst als Pflegebegleiter im Unternehmen und weiß: „Zu unseren Aufgaben gehört auch, Kollegen zu erklären, warum jemand gerade nicht so auf der Höhe ist. Nicht jeder hat diese Erfahrung schon gemacht.“

Weitere Texte aus dem Ressort Wirtschaft finden Sie hier: