Mülheim/Essen. Rund eine halbe Million Erwerbstätige in NRW pflegen Angehörige. Betriebe und das Land NRW reagieren auf die Doppelbelastung.
Kathrin Müller-Pokropowitz hat es selbst erlebt. Sie weiß sehr gut, wie es ist, nach Feierabend noch einen pflegebedürftigen Angehörigen zu versorgen. Sie weiß, dass dann manche Tage schlicht nicht genug Stunden haben, um allem und allen gerecht zu werden. Und dass es manchmal zu viel wird.
„Ich muss ganz ehrlich sagen, als ich meine Mutter gepflegt habe, hätte ich beinahe gekündigt“, sagt Müller-Pokropowitz. „Ich hatte irgendwann das Gefühl, das geht nicht mehr.“
Heute nutzt die Duisburgerin ihre Erfahrungen und hilft anderen pflegenden Angehörigen. Ende 2021 hat sie sich zur „Pflegelotsin“ schulen lassen - im Auftrag ihres Arbeitgebers. Müller-Pokropowitz ist beim „Mülheimer Handel“ angestellt, einem Sanitär-Großhändler, der zur Unternehmensgruppe Pietsch mit Sitz in Ahaus gehört. Für Kolleginnen und Kollegen, die plötzlich einen Angehörigen pflegen müssen oder sich darauf vorbereiten wollen, ist sie nun erste Ratgeberin.
„Ich kann keinen Pflegegrad ausrechnen und bin keine Pflegeberaterin, aber ich höre zu, kann erste Tipps geben und Kontakte zu Beratungsangeboten vermitteln“, sagt die 50-Jährige. Sie wolle ihren Kollegen deutlich machen, dass keiner mit seinen Sorgen allein sei und es Hilfen gebe. „Wenn gewünscht, gehe ich auch mit der Führungskraft.“
500.000 Erwerbstätige in NRW pflegen
Ein Gesprächsangebot, das zeigt: Familienfreundlichkeit beschränkt sich in Unternehmen längst nicht mehr auf die Betriebs-Kita. In den Betrieben geht es inzwischen immer häufiger um eine andere Doppelbelastung - die der Pflege neben dem Beruf.
Bundesweit rund sechs Prozent der Erwerbstätigen pflegen nach Feierabend Familienmitglieder. Rein rechnerisch bedeutet das für NRW: Mindestens 500.000 Menschen versorgen neben ihrer Arbeit noch einen pflegebedürftigen Menschen. Die meisten der Betroffenen sind zwischen 45 und 64 Jahre alt - also Arbeitskräfte, die über viel Berufserfahrung und eine lange Betriebszugehörigkeit verfügen und schmerzlich vermisst würden, wenn ihnen Beruf und Pflege über den Kopf wächst.
Pflegende gehen Arbeitsmarkt ganz oder zum Teil verloren - NRW will gegen steuern
Denn der Zeitaufwand für Angehörige, auf denen die Hauptlast der Pflege liegt, ist beachtlich - im Schnitt sind es einer Befragung von 2018 zufolge über 30 Stunden in der Woche. Für viele ist das kaum zu schaffen. Hauptpflegepersonen arbeiten eher in Teilzeit, sind eher geringfügig oder gar nicht beschäftigt. Hilfen sind scheinbar immer noch kaum bekannt: Bundesweit haben 2019 weniger als 100.000 Menschen eine Pflegezeit oder Familienpflegezeit in Anspruch genommen.
NRW will gegensteuern. Nach dem Vorbild des Landes Hessen hat das Sozialministerium mit den Pflegekassen und den Privaten Krankenversicherungen für 2,4 Millionen Euro das Programm „Vereinbarkeit Pflege und Beruf“ gestartet. Betriebe können kostenfrei Pflegelotsinnen und Pflegelotsen schulen, sollen Beratung an die Hand bekommen und Fachleute, die über rechtliche Neuerungen informieren. Dass sich Beruf und Pflege miteinander in Einklang bringen lassen, sei in der alternden Gesellschaft von großer Bedeutung, betonte Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) zum Start des Programms.
Unternehmerin: „Pflege betrifft uns alle“
Bislang wurden rund 50 Pflegelotsen qualifiziert und 16 Unternehmen ausgezeichnet, die sich zum Teil bereits vor Jahren auf den Weg gemacht haben - darunter die Unternehmensgruppe Pietsch mit ihren rund 1300 Beschäftigten.
Rendel Pietsch macht keinen Hehl daraus, wie wichtig sie das Thema Pflege findet. „Es betrifft uns alle. Entweder hat man schon gepflegt oder man wird es noch tun“, sagt die 59-Jährige. „Und damit ist es ein Thema für uns als Arbeitgeber. Jeden Fall, in dem jemand kündigt, weil er glaubt, er kann Beruf und Pflege nicht unter einen Hut bekommen, gilt es zu verhindern.“
Rendel kümmert sich in der familiengeführten Firmengruppe um Personalprojekte. Bereits seit 2016 gehört dazu die Frage, wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Pflege neben dem Beruf erleichtert werden kann.
Die Betroffenen, gerade Männer, zu erreichen, sei anfangs nicht leicht gewesen. Inzwischen gebe es sechs Pflegelotsinnen, die helfen. Rendel geht es aber auch um einen offenen Umgang mit dem Thema Pflege: „Wir wollen Gesprächsbereitschaft signalisieren und Lösungen finden.“ Dass das bedeutet, dass Angehörige Auszeiten nehmen oder Arbeitszeit reduzieren - also dem Betrieb zeitweise fehlen – sieht sie nicht als Nachteil. „Wir möchten unsere Mitarbeiter halten und ich glaube, dass wir damit auch bei jungen Leute punkten.“
Kathrin Müller-Pokropowitz geht noch einen Schritt weiter. Sie erinnert sich gut an die Überlastung, die sie selbst gespürt hat. „Das ist wie ein Sog, über den man selbst krank werden kann.“
-> Zum Programm
Ansprechpartner für das Landesprogramm ist das „Servicezentrum Pflegevereinbarkeit“ im Kuratorium Deutsche Altershilfe. Nähere Informationen unter: https://berufundpflege-nrw.de/