Duisburg/Essen. In NRW fehlen Pflegekräfte. Heime müssen Menschen abweisen, die am dringendsten Hilfe brauchen - und suchen einen ungewöhnlichen Schulterschluss.

Der Arbeitskräftemangel in der Alten- und Langzeitpflege drängt Betriebe zu immer drastischeren Maßnahmen. Weil Fachkräfte fehlen, lehnen Pflegeheime und Dienste nach eigenen Angaben immer häufiger Kunden ab. Dabei haben ausgerechnet die Menschen ein Nachsehen, die die Pflege besonders dringend benötigen.

Die Arbeitgeber-Initiative „Ruhrgebietskonferenz Pflege“ spricht sogar von einer Triage, die kranke und hilfebedürftige Menschen mit größtem Pflegebedarf im Stich zu lassen drohe. In der Langzeitpflege erlebe man eine Bevorzugung von leichten Pflegefällen und eher einfachen Versorgungen. Betroffene berichteten, dass schwere und damit zeitintensive Fälle, meist Pflegegrade 4 und 5, die oft auch den Einsatz von Spezialistinnen und Spezialisten erforderlich machen, von Pflegediensten und auch von stationären Einrichtungen immer häufiger abgelehnt oder gekündigt werden, heißt es von der Ruhrgebietskonferenz. Bislang hat kaum jemand offen darüber gesprochen - dass Arbeitgeber es nun tun, ist Folge der Dramatik.

Folge des Arbeitskräftemangels: Extremes Übergewicht erschwert Heimplatzsuche

Petra Rathofer ist bei der Evangelischen Dienste Duisburg verantwortlich für 16 Pflegeheime. Sie erinnert sich beispielhaft an den Fall einer Frau, die aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte. Sie hatte den höchsten Pflegegrad, war also in höchstem Maße unselbstständig und benötigte rund um die Uhr eine intensive Pflege. Doch aufnehmen konnte Rathofer sie nicht.

Das macht uns verrückt, weil das gegen alles geht, wofür wir stehen.
Petra Rathofer - Geschäftsführung Ev. Dienste Duisburg

„Die Frau wog 355 Kilogramm“, sagt Rathofer. Jemandem mit solch einem Gewicht auch nur umzulagern, das binde vier Arbeitskräfte - Menschen, die dann anderswo am Bett fehlen. „Das können wir nicht leisten. Wir können nicht mehr jeden versorgen“, sagt Rathofer.

Die Pflegeexpertin mit 35 Jahren Berufserfahrung gibt offen zu, dass bestimmte Erkrankungen die Aufnahme in einem Pflegeheim inzwischen erschwerten. Dazu gehören bestimme Virus-Infektionen, die einen sehr hohen Hygieneaufwand mit sich bringen. Aber auch psychische Erkrankungen wie Demenz im Endstadium benötigten viel Aufmerksamkeit, die dann oft anderswo fehle.

„Das macht uns verrückt, weil das gegen alles geht, wofür wir stehen“, sagt die Duisburgerin. Doch sie trügen auch Verantwortung für die bestehenden Heimbewohner, deren Versorgung gewährleistet sein muss. Das macht Ulrich Christofczik deutlich, ebenfalls Chef der Evangelischen Dienste, aber auch einer der Köpfe der Ruhrgebietskonferenz Pflege. „Wir müssen unsere Pflegekräfte schützen. Sie dürfen uns nicht wegbrechen.“ Christofczik spricht von einem Teufelskreis, der über einzelne Betriebe hinaus die Branche umtreibe. „Die Ernsthaftigkeit der jetzigen Situation ist bei den wenigsten angekommen.“

Sie sprechen von einem Teufelskreis, der ohne Hilfe nicht zu durchbrechen sei: Ulrich Christofczik und Petra Rathofer von den Evangelischen Diensten Duisburg.
Sie sprechen von einem Teufelskreis, der ohne Hilfe nicht zu durchbrechen sei: Ulrich Christofczik und Petra Rathofer von den Evangelischen Diensten Duisburg. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Es dauert bis zu 200 Tage, bis eine offene Pflegestelle besetzt ist

In kaum einer Branche sind Beschäftigte so rar wie in der Altenpflege. Das geht aus Daten des Instituts der Deutschen Wirtschaft hervor. Mitte 2023 fehlten bundesweit knapp 19.800 Pflegekräfte, davon etwa 4.800 in NRW. Fachkräfte lassen sich kaum noch finden: Bis zu 200 Tage dauere es inzwischen, eine offene Stelle zu besetzen, sagen Arbeitgeber. In einigen NRW-Kommunen steht inzwischen jedes zehnte Bett leer, weil Pflegekräfte fehlen. So ein Heim rechnet sich aber nur, wenn es zu 98 Prozent ausgelastet ist - auch das ist ein Grund für die aktuelle Schieflage, in der viele Heimbetreiber stecken.

Das Problem: Die Heime stehen nicht allein unter Druck. Allein von den Duisburger Krankenhäusern gebe es jeden Tag mindestens 30 Anfragen an Heimleitungen, ob Plätze frei sind, sagt Rathofer. Die Kliniken müssen ihre Betten schnell wieder freibekommen, um wirtschaftlich zu arbeiten. Genauso belastet sind Angehörige. In einem extremen Fall habe eine pflegende Tochter ihre Mutter nach drei Wochen nicht mehr aus der Kurzzeitpflege abgeholt, erinnert sich Rathofer. Das Bett war aber längst anderweitig vergeben. Rathofer spricht von einer furchtbaren Situation.

Essener Pflegedienst: 30 Vollzeitstellen weniger als 2019

Bei den Pflegediensten gibt es längst „unsichtbare Warteschlangen“. Auch hier hat der Fachkräftemangel das Angebot verknappt, Touren müssen zusammengelegt werden, Dienste reduzieren ihren Einzugsbereich. Die Diakoniestationen Essen versorgen im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit rund 500 Menschen weniger. „In der Zeit haben wir 30 Vollzeitstellen durch Verrentung, Langzeiterkrankungen und Kündigung verloren“, sagt Geschäftsführerin Martina Pollert. Dabei sei der Pflegebedarf ungebrochen groß. „Manchmal klingelt das Telefon hier den ganzen Tag, besonders freitags, weil die Kliniken ihre Patienten zum Wochenende entlassen.“

Von einer Triage will sie nicht sprechen. Ein Grund für Ablehnungen sei aber, wenn jemand keine Pflegehilfsmittel zulasse. „Beschäftigte müssen rückenschonend arbeiten können. Wenn sie 15 Leute am Morgen pflegen, brauchen wir solche die Hilfsmittel.“ Auch medizinische Leistungen wie die Insulinspritze am Morgen könne nicht jede Mitarbeiterin übernehmen. „Wir können bestimmte Leute nur aufnehmen, wenn wir die entsprechende Qualifikation zu der entsprechenden Zeit haben“, sagt Pollert offen. Selbst für so etwas wie Duschen am Morgen fehle oft Personal, weil das anderswo gebunden ist. Ein Umdenken sei nötig - es könnten viel mehr Menschen versorgt werden, wenn nicht jeder morgens früh duschen wolle.

Pflegende Angehörige unter Druck: In zwei Jahren sind wir krank

Bei pflegenden Angehörigen, die oft noch mitten im Berufsleben stehen, wächst inzwischen die Verzweiflung: Sie seien absolut hilflos, sagt Notburga Ott von der bundesweit aktiven Initiative „Wir pflegen“, bei der sich Angehörige nach den wiederholten Absagen von Pflegeanbietern immer häufiger melden. „Die Menschen sind am Ende“, sagt sie.

Viele versuchten noch, sich mit Freunden und Nachbarn auszuhelfen, solange kein Pflegedienst zu finden ist. „Wer Geld hat, stellt Hilfe an. Die Leute werden alleingelassen“, sagt Ott. Sie selbst hat Vater und Mutter gepflegt. Alle drei Stunden umbetten - „das gilt auch nachts.“

Die Angehörigen haben sich in ihrer Not sogar mit Arbeitgebern zusammengetan, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen: Ende Februar stellt die Ruhrgebietskonferenz im Schulterschluss mit der Initiative einen Pflege-Triage-Gipfel auf die Beine. „Sogar der Unternehmerverband ist auf uns zugekommen“, sagt Ott. „Die Firmen wissen, wenn pflegende Angehörige weiter so beastet werden, steigt die Zahl der Krankheitsfälle und damit der Ausfälle in den Betrieben.“