Essen. Gewerkschaft und Arbeitgeber streiten seit Monaten über Tarifplus, HDE-Chef Genth schrieb Verdi-Chef Werneke bösen Brief. Das ist seine Antwort.
Der von vielen Warnstreiks begleitete Tarifstreit im Einzelhandel zieht sich bereits über fünf Monate, in NRW mit fünf ergebnislosen Verhandlungsrunden. Die bundesweit 3,2 Millionen und in NRW mehr als 714.000 Beschäftigten warten seit Mai auf eine Erhöhung, während sie in ihren Läden live miterleben, wie sehr die Preise steigen. Die Gewerkschaft Verdi und die Arbeitgeberverbände machen sich dafür gegenseitig verantwortlich.
Nun eskaliert der Konflikt weiter: Unlängst schaltete sich Stefan Genth, der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE), mit einem offenen, vorwurfsvollen Brief an Verdi-Chef Frank Werneke ein. Dessen Antwortbrief, der unserer Redaktion vorliegt, ging nun raus und klingt ebenfalls wenig versöhnlich.
Genth und Werneke schreiben sich böse Briefe
Beide werfen sich jeweils vor, die stets regional geführten Tarifgespräche zu blockieren und streiten zugleich über das Streikrecht. Damit wird der Tarifkonflikt inzwischen auf der höchsten Ebene des Arbeitgeberverbands und der Dienstleistungewerkschaft ausgetragen. Genth hatte in seinem Brief an Werneke Ende August dem Verdi-Chef vorgeworfen, den regionalen Verhandlungsführern zu wenig Spielraum für einen Kompromiss zu lassen. Das weist Werneke in seiner Antwort zurück: „Unsere regionalen Tarifkommissionen haben selbstverständlich das Mandat zu verhandeln – allerdings sind leider keine Fortschritte in den Verhandlungen erkennbar.“
Dass sich Arbeitgeber und Gewerkschaftsbezirke in regionalen, gleichzeitig laufenden Tarifrunden eng abstimmen, ist nicht ungewöhnlich. Tatsächlich unterscheiden sich sowohl die Verdi-Forderungen als auch die Arbeitgeberangebote in allen Ländern allenfalls marginal. Die Handelsverbände bieten für 24 Monate eine Tarifanhebung im August um 5,3 Prozent oder 150 Euro in NRW und im Mai 2024 weitere 3,1 Prozent. Darüber hinaus soll es einen von allen Steuern und Abgaben befreiten Inflationsausgleich von 450 Euro geben, den Betriebe aber auch streichen können, wenn sie das überfordert.
Wie üblich werden diese Zahlen unterschiedlich interpretiert. Die Arbeitgeber addieren ihre Tarifschritte kurzerhand auf 8,5 Prozent, Genth nennt das die „absolute Grenze der Belastbarkeit“ und rechnet in diesem Jahr bereits mit 9000 Geschäftsaufgaben. Verdi wertet das Angebot dagegen als Reallohnverlust. Damit liege es „deutlich entfernt von einem möglichen Abschluss“, schreibt Werneke an Genth und warnt: „Ohne eine deutliche Bewegung der Arbeitgeber im Einzelhandel wird sich die Tarifrunde daher weiter hinziehen.“ Verdi fordert in NRW und den meisten Ländern eine pauschale Erhöhung der Stundenlöhne um 2,50 Euro für eine Laufzeit von zwölf Monaten und einen Mindestlohn von 13 Euro.
Das Angebot der Arbeitgeber
Zum Arbeitgeberangebot gehört auch, dass es für die ersten drei Monate keine tabellenwirksame Erhöhung vorsieht. Will man die 5,3 Prozent ab August mit der Jahresinflation vergleichen, bleiben durchschnittlich nur 3,97 Prozent monatlich von Mai 2023 bis April 2024 übrig. Bei einer Inflationsrate von aktuell rund sechs Prozent, die im Laufe des Jahres noch etwas sinken soll, gleicht das die Teuerung nicht aus. Die 3,1 Prozent im kommenden Mai sollten dagegen für einen Inflationsausgleich reichen, denn die Prognosen gehen für 2024 von einer Teuerungsrate um die drei Prozent aus.
Einen heftigen juristischen Streit leisten sich die Tarifpartner nebenbei über eine Zusatzforderung der Gewerkschaft: Verdi will die Arbeitgeber im Abschluss dazu verpflichten, die Allgemeinverbindlichkeit ihres Tarifvertrags im jeweiligen Bundesland zu beantragen. Das müssten Verdi und Handelsverband gemeinsam machen, in NRW könnte ihn Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) dann für allgemeinverbindlich erklären, was der arbeitnehmerfreundliche Christdemokrat in aller Regel gerne macht, um die Tarifbindung zu stärken. Verdi ist das im Einzelhandel besonders wichtig, weil etwa in NRW nur noch jeder und jede dritte Beschäftigte nach Tarif bezahlt wird. Die Gewerkschaft hat auf die meisten Arbeitgeber gar keinen Zugriff mehr oder muss einzeln verhandeln, etwa mit dem Kaufhauskonzern Galeria Karstadt Kaufhof.
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Für die Allgemeinverbindlichkeit dürfe Verdi aber nicht streiken, hatte Genth Werneke vorgeworfen. Verbände und tarifgebundene Unternehmen dürften nicht durch Streikdruck dazu gezwungen werden, die Allgemeinverbindlichkeit zu beantragen. In mehreren Ländern hatten die Arbeitgeber dagegen geklagt, in erster Instanz aber stets verloren. Genth gibt sich zuversichtlich, in den Hauptsacheverfahren würden die Gerichte anders entscheiden.
HDE: Verdi darf nicht für Allgemeinverbindlichkeit streiken lassen
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Werneke wundert sich in seinem Antwortbrief darüber, dass sein Tarifpartner sich gegen eine Allgemeingültigkeit der gemeinsamen Tarifverträge wehrt. Das sei wichtig für einheitliche Arbeitsbedingungen in der Branche und mehr Fairness im Wettbewerb. „Es ist mir völlig unverständlich, dass Sie sich Initiativen für allgemeinverbindliche Tarifverträge im Einzelhandel verweigern und stattdessen die Zunahme von tarifungebundenen Mitgliedschaften hinnehmen oder sogar befördern“, kritisiert er den HDE-Chef, „Sie treiben damit den Einzelhandel in eine Abwärtsspirale.“