Essen. Die scheidende Thyssenkrupp-Chefin Martina Merz zieht Bilanz und hat Tipps für ihren Nachfolger. Zum Abschied schreibt der Konzern rote Zahlen.
Zum Abschied erlaube sie sich, „ein bisschen emotional“ zu werden, sagt Martina Merz. Jedenfalls meldet sich die scheidende Thyssenkrupp-Chefin noch einmal zu Wort, bevor sie in wenigen Wochen das Unternehmen verlässt. Ein nur kühl via Pressemitteilung verkündeter Rückzug, wie es ihn bei früheren Chefwechseln gegeben hat, ist ganz offensichtlich nicht ihre Sache. In einer Telefonkonferenz zur Quartalsbilanz, die sonst ihr Vorstandskollege Klaus Keysberg meist allein übernimmt, stellt sich diesmal auch Martina Merz den Fragen von Journalisten – voraussichtlich zum letzten Mal bei Thyssenkrupp. Warum geht sie? Was gibt sie ihrem Nachfolger mit auf den Weg? Und warum will sie – anders als Vorgänger – auf eine Abfindung verzichten?
Um ihren Rückzug von der Thyssenkrupp-Spitze verständlich zu machen, erinnert Martina Merz an das Jahr 2019, als sie vom Aufsichtsratsvorsitz in den Vorstand des zu diesem Zeitpunkt schwer angeschlagenen Stahl- und Industriegüterkonzerns gewechselt ist. „Es war damals tatsächlich nicht mein Lebensplan“, sagt die Managerin zum Rollenwechsel. Gleichwohl hat sich Martina Merz auf das Abenteuer eingelassen, Thyssenkrupp retten zu wollen.
Es folgt eine harte Sanierung. 13.000 Arbeitsplätze sollen insgesamt abgebaut werden, von denen bis jetzt bereits mehr als 10.000 Stellen verschwunden sind. Mit dem milliardenschweren Verkauf der Aufzug-Sparte hat die neue Chefin wohl auch eine drohende Insolvenz des Essener Traditionskonzerns verhindert. In den vergangenen Monaten konnte der Vorstand wieder einige große Investitionsprojekte realisieren – insbesondere in der Stahlsparte, die jahrelang vernachlässigt worden war. „Die Rettungsaktion war erfolgreich“, konstatiert Merz. Das Unternehmen sei „auf dem richtigen Weg“.
Ausgerechnet jetzt rote Zahlen bei Thyssenkrupp
Und doch ist Thyssenkrupp alles andere als ein Gewinn- und Dividenden-Garant. Ausgerechnet zur letzten Quartalsbilanz der scheidenden Vorstandschefin muss der Konzern rote Zahlen verkünden. In den Monaten Januar bis März 2023 fiel unter dem Strich ein Verlust in Höhe von 223 Millionen Euro an – im Vorjahreszeitraum ist noch ein Nettogewinn von 565 Millionen Euro entstanden. Die Entwicklung sei nicht überraschend, beteuert Finanzchef Keysberg. Insbesondere hohe Energie- und Rohstoffkosten hätten sich negativ ausgewirkt. Die Lage werde sich bessern.
Thyssenkrupp sei in einer „robusten“ Verfassung und habe nun eine „solide Bilanz“, sagt Martina Merz. Angetreten ist die Managerin mit dem Motto: „Stop the Bleeding.“ Ein finanzielles Ausbluten der Firma durch einen andauernden Mittelabfluss müsse mit aller Macht verhindert werden. Was daraus geworden ist? Bei der für Thyssenkrupp wichtigen Bilanzkennziffer „Free Cashflow“ vor Firmenverkäufen erwartet der Vorstand jetzt immerhin „einen leicht positiven Wert“ zum Ende des Geschäftsjahres. Das hat es lange nicht bei Thyssenkrupp gegeben.
Auch sie selbst wolle „Geld im Unternehmen lassen“, wie Martina Merz sagt. Auf eine Abfindung, die ihr wohl laut Vertrag zugestanden hätte, verzichte sie. Dem Vernehmen nach geht es um mehr als drei Millionen Euro. „Das ist meine persönliche, ganz private Entscheidung“, sagt Merz in der Telefonkonferenz auf Nachfrage. Sie denke dabei auch an die Beschäftigten, die Härten erfahren hätten. „Bei dieser schwierigen Transformation entstehen für viele Menschen Folgen, die ich auch nicht immer gut finde“, so Merz. „Deshalb lasse ich das Geld im Unternehmen, und das ist viel Geld. Es ist mein Zeichen.“
„Eine von mir getroffene Entscheidung“
Ihren Rückzug bezeichnet die Managerin als „eine von mir getroffene Entscheidung“. Beim Umbau von Thyssenkrupp sei ein Punkt erreicht, an dem sie – anders als bisher – „vielleicht weniger den Unterschied machen“ könne. Auf Kritik der IG Metall, die öffentlich an ihrer Strategie weitgehend unabhängig agierender Tochterfirmen gezweifelt hat, geht Merz nicht direkt ein, sie betont aber: Die „dezentrale Aufstellung als Unternehmensgruppe“ zahle sich aus.
Erst vor etwa einem Jahr hat Martina Merz indes einen Vertrag bis 2028 erhalten, der nun aufgelöst wird. Sie beende ihre Arbeit als Vorstandschefin im Mai. Für den Juni gebe es noch eine „Auslauffrist“, doch dann wird schon der Neue an der Konzernspitze im Amt sein: Miguel Ángel López Borrego.
Im Konzern wird er wahlweise salopp „hessischer Spanier“ oder „spanischer Hesse“ genannt. Denn der im Siemens-Konzern geprägt Manager hat zwar die spanische Staatsbürgerschaft, sein Geburtsort ist aber Frankfurt am Main. „Herr López“, wie Frau Merz ihren Nachfolger nennt, ist international erfahren, zahlenorientiert und auch vertraut mit dem Metier der Zu- oder Verkäufe von Firmen. Über ihr Profil sagt Martina Merz: „Ich bin Ingenieurin.“
„Ich gehe jetzt wieder in mein früheres Leben zurück“
Der scheidenden Thyssenkrupp-Chefin bleiben Aufsichtsratsmandate bei Siemens und Volvo. „Ich gehe jetzt wieder in mein früheres Leben zurück“, sagt sie. Sie verlasse zwar den Vorstand, bleibe aber „Mitglied des Fanclubs“ von Thyssenkrupp. Und sie sagt auch den Satz: „Ich liebe dieses Unternehmen.“
Thyssenkrupp bleibe sie verbunden, aber nicht etwa durch einen gut dotierten Beratervertrag. „Ich finde es nicht richtig, Beraterverträge anzunehmen“, betont Merz. „Wenn mich jemand irgendwas fragt und ich einen Beitrag leisten kann, beantworte ich diese Frage auch kostenlos.“
Welche Empfehlung sie ihrem Nachfolger López gebe? „Geschäfte entwickeln, Geld investieren und die Journalisten pflegen“, sagt Martina Merz. Zum Ende der Telefonkonferenz ruft sie noch ein „Tschüss und Danke“ in die Runde.