Essen. Der Rückzug von Martina Merz hat Gründe. Das Konfliktpotenzial bei Thyssenkrupp ist groß. Ausgerechnet jetzt kommt der Bundespräsident.

Vor ein paar Tagen war Sigmar Gabriel im Essener Thyssenkrupp-Quartier. Der frühere Vizekanzler ist jetzt Aufsichtsratschef der Stahlsparte des Revierkonzerns, zu dem sehr unterschiedliche Geschäfte in ganz Deutschland gehören: U-Boot-Werften, Autoteile-Werke, Ingenieurschmieden für Zement- oder Düngemittelfabriken, ein Werkstoffstoffhandel. Die Liste ließe sich fortsetzen. Gabriel, viele Jahre lang SPD-Chef, hat bei der Keimzelle des Konzerns angeheuert: Thyssenkrupp Steel, ein Teilbereich des Konglomerats, doch schon für sich genommen Deutschlands größter Stahlhersteller – noch vor Wettbewerbern wie Salzgitter, Saarstahl oder Arcelor-Mittal.

Mit großen Werken in Bochum, Dortmund und Duisburg prägt Thyssenkrupp Steel die Industrie in NRW. Doch das Geschäft ist ebenso traditionsreich wie problembeladen. Seit Jahrzehnten gehört die Stahlindustrie zu den größten Verursachern von klimaschädlichem Kohlendioxid. Allein am Hochofen-Standort Duisburg stößt Thyssenkrupp eigenen Angaben etwa 2,5 Prozent der gesamten CO2-Emissionen in Deutschland aus. Die Duisburger Firmenzentrale von Thyssenkrupp Steel – das lässt auch das rostige Erscheinungsbild erkennen – hat schon bessere Tage erlebt. Und doch herrscht dort eine gewisse Aufbruchstimmung, seit klar ist, dass es für Europas größten Stahlstandort eine Zukunft geben soll.

Zur Herstellung von klimafreundlichem Stahl ist eine milliardenschwere Investition geplant: der Bau einer Direktreduktionsanlage, die in einigen Jahren einen Hochofen ersetzen soll. „Eines ist sehr deutlich geworden“, schreibt Tekin Nasikkol, der Gesamtbetriebsratschef der Stahlsparte, nach dem Treffen mit Sigmar Gabriel. „Wir befinden uns in einer entscheidenden Phase für die Zukunft des Stahls.“

Bundespräsident plant Besuch

Für den nächsten Dienstag hat sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier angekündigt. Er wolle sich „vor Ort in Duisburg über die Transformation der Stahlindustrie informieren“, heißt es in der Einladung des Konzerns. Gerade einmal ein paar Wochen ist es her, da hat sich Steinmeier schon einmal mit dem Konzern befasst: beim Festakt zum Jubiläum der Essener Villa Hügel, wo die Großaktionärin Krupp-Stiftung residiert. Da saß Thyssenkrupp-Vorstandschefin Martina Merz noch in der ersten Reihe. Seit Wochenbeginn ist klar, dass sie Ende Mai vorzeitig ausscheiden wird. Beim Termin mit dem Bundespräsidenten werde sie vor Ort sein, wird bei Thyssenkrupp betont. Ende Mai soll dann Schluss sein.

Der Nachfolger steht schon bereit: Miguel Ángel López Borrego, ein spanischer Staatsbürger mit Geburtsort Frankfurt am Main, der viele Stationen im Siemens-Konzern absolviert hat, häufig mit Verantwortung für die Finanzen. International, zahlenorientiert, auch vertraut mit Zu- oder Verkäufen von Firmen – für einen Manager mit diesem Profil hat sich Thyssenkrupp-Aufsichtsratschef Siegfried Russwurm entschieden.

Lange Liste ehemaliger Vorstände, die noch Geld erhalten

Martina Merz, erst im vergangenen Jahr mit einem Vertrag bis 2028 ausgestattet, habe den Aufsichtsrat „um Gespräche über eine einvernehmliche Auflösung ihres Mandats“ gebeten, heißt es. Marc Tüngler von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz merkt an, es werde „spannend, wie das Finanzielle hier geklärt wird“. Laut Geschäftsbericht hat die Managerin für das vergangene Geschäftsjahr 2,59 Millionen Euro erhalten – nach 3,64 Millionen Euro im Vorjahr.

Die Wechsel im Management waren zahlreich – und die Liste der ausgeschiedenen Vorstandsmitglieder, die noch Geld von Thyssenkrupp erhalten, ist lang im jüngsten Geschäftsbericht: Sie reicht von Guido Kerkhoff, der 2,34 Millionen Euro bekommt, über Donatus Kaufmann (1,11 Millionen Euro) und Johannes Dietsch (820.000 Euro) bis Heinrich Hiesinger (695.000 Euro).

„Thyssenkrupp verliert durch den Chef-Wechsel schon wieder kostbare Zeit“, sagt Ingo Speich von der Sparkassen-Fondsgesellschaft Deka. Die häufigen Wechsel an der Spitze „tragen nicht zur Glaubwürdigkeit und Vertrauensbildung am Kapitalmarkt bei“, so Speich. Den „Reformstau“ und die Häufigkeit der Chefwechsel bezeichnet er als „besorgniserregend“.

Merz-Strategie für neuen Chef?

Martina Merz wollte den breit aufgestellten Konzern als Firmengruppe positionieren, in der die einzelnen Unternehmen weitgehend unabhängig von der Essener Zentrale agieren – „Group of Companies” nennt sie das Konzept, das die IG Metall ablehnt. „Das Konzept der Group of Companies ist für uns gescheitert“, kritisierte die Gewerkschaft unlängst.

Zu den Plänen der scheidenden Vorstandschefin gehört auch, die Stahlsparte aus dem Konzern herauszulösen. Stichwort: Verselbstständigung. Auch ein Verkauf der Stahlwerke ist dabei Teil der Überlegungen. Mögliche Investoren, darunter Finanzinvestoren oder ausländische Stahlkonzerne sollen schon bei Thyssenkrupp angeklopft haben. Doch würde die IG Metall einen solchen Deal mitmachen? Die Skepsis bei den Gewerkschaftern ist groß. Ein Strategiewechsel sei nicht vorgesehen, betont Aufsichtsratschef Russwurm. Der neue Chef soll die bisherige Strategie fortführen. Damit dürfte es weiteres Konfliktpotenzial geben.“

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