Essen. Martina Merz soll bis ins Jahr 2028 Thyssenkrupp führen. Noch sind viele Probleme zu lösen. Dabei setzt Merz auf einen leisen Führungsstil.
Als der kanadische Wirtschaftsnobelpreisträger David Card an einem ziemlich sonnigen Mai-Vormittag zu einem Empfang in den Gartensaal der Villa Hügel kommt, schaut auch Martina Merz kurz vorbei. Unauffällig mischt sich die Thyssenkrupp-Vorstandsvorsitzende unter die Gäste, hört den Reden von Stiftungschefin Ursula Gather und Oberbürgermeister Thomas Kufen zu, führt ein paar Gespräche am Stehtisch. Dann verabschiedet sich Merz wieder. Weder um ihre Ankunft noch um ihren Abschied macht sie viel Tamtam.
Nur wenige Tage zuvor ist Martina Merz von der Beratungsfirma Boston Consulting und dem Manager Magazin zur „einflussreichsten Frau der deutschen Wirtschaft“ gekürt worden. Sollte die Einschätzung der Jury, die das Ranking erstellt hat, zutreffen: Durch Lautstärke oder dominantes Auftreten jedenfalls hat Merz ihre Machtposition nicht erlangt. „Meine Aufgabe ist es, die Richtung vorzugeben“, sagt sie in einem Interview zur Preisverleihung. Sie habe die Erfahrung gemacht, Menschen eher zu überzeugen, wenn sie sachlich bleibe. „Herumbrüllen hilft da nicht.“
Seit zweieinhalb Jahren prägt Martina Merz mit ihrer Führungsmethode nun den Essener Traditionskonzern Thyssenkrupp. Nach dem Willen des Aufsichtsrats sollen fast sechs weitere Jahre hinzukommen. Jedenfalls hat das von BDI-Präsident Siegfried Russwurm geführte Gremium den noch laufenden Vorstandsvertrag der 59-jährigen Managerin um fünf Jahre bis Ende März 2028 verlängert. Merz gehe den Umbau von Thyssenkrupp entschlossen an, so Russwurm. Der „Veränderungsprozess“ solle weitergehen.
Schonungslose Bestandsaufnahme beim Amtsantritt
Schon bei ihrer ersten Bilanzpressekonferenz im November 2019 setzte Merz mit einer kleinen Ortsverlagerung ein Zeichen. Wurde zu Zeiten ihrer Vorgänger Heinrich Hiesinger und Guido Kerkhoff für die Vorstandsauftritte regelmäßig das Atrium des Essener Konzernquartiers aufwendig umgebaut, entschied sich Merz für den unternehmenseigenen Veranstaltungssaal – um Kosten zu sparen. Dass die erste Frau an der Thyssenkrupp-Spitze über Raumfragen hinaus viel Veränderungsbedarf im Konzern sah, wurde schnell deutlich. „So wie bisher kann es nicht weitergehen“, sagte sie bei ihrem Amtsantritt und präsentierte eine schonungslose Bestandsaufnahme. Zu lange sei zugeschaut worden, „wenn Geschäfte nicht die geplante Performance gebracht“ hätten. Anstatt die Probleme zu lösen, habe sich Thyssenkrupp „durchgewurschtelt“.
Zweieinhalb Jahre später sieht Thyssenkrupp tatsächlich anders aus. Die Belegschaft ist von rund 160.000 Beschäftigten weltweit auf weniger als 100.000 geschrumpft. Das lukrative Aufzug-Geschäft ist an eine Investorengruppe unter Beteiligung der Essener RAG-Stiftung verkauft worden. Die Duisburger Grobblechfabrik hat ihren Betrieb eingestellt. Eine Reihe von Tochterfirmen sind von neuen Eigentümern übernommen worden. Die Liste der Beispiele ließe sich verlängern. Es hat viele, zuweilen harte Einschnitte gegeben.
„Stop the Bleeding“
Mit Hilfe des milliardenschweren Erlöses aus dem Verkauf des Aufzug-Geschäfts konnte der Vorstand den seit Jahren angeschlagenen Essener Konzern auch in der Corona-Krise über Wasser halten. Doch nach wie vor fließt mehr Geld aus dem Thyssenkrupp-Konzern ab, als in die Kasse kommt. Bei ihrer zweiten Bilanzvorlage im Herbst 2020 formulierte Merz einen Satz, den sie als ihre „wichtigste Botschaft für den Kapitalmarkt“ bezeichnete: „Stop the Bleeding“, sagte sie. Ein finanzielles Ausbluten der Firma durch einen weiteren Mittelabfluss wolle sie mit aller Macht stoppen. Bei ihrer dritten Jahresbilanz Ende vergangenen Jahres betonte Merz dann ihre Erfolge. Eine „Trendwende“ sei erkennbar.
Ein kerngesundes, dividendenstarkes Unternehmen ist Thyssenkrupp allerdings auch unter der Führung von Martina Merz noch nicht geworden. Nach Corona belasten nun die Folgen des Ukraine-Krieges den stark vom Stahl geprägten Konzern, der massiv von der Automobilindustrie abhängig ist. Schwächeln große Stahlabnehmer wie Volkswagen, ist das unmittelbar im Ruhrgebiet zu spüren.
Mit Blick auf die Zukunft von Thyssenkrupp gibt es viele offene Fragen. So lässt eine Investitionsentscheidung des Vorstands zum Bau einer Fabrik für die klimaneutrale Stahlproduktion in Duisburg auf sich warten. Auch Pläne für einen Börsengang der Konzerneinheit Nucera, die Wasserstoff-Anlagen entwickelt, sind nicht realisiert.
„Ich halte viel von ihr, sehr viel“
Mit dem neuen Fünf-Jahres-Vertrag stellt der Aufsichtsrat klar, dass er langfristig auf Martina Merz setzt. „Ich halte viel von ihr, sehr viel“, sagte Ursula Gather, die Chefin der Großaktionärin Krupp-Stiftung, zwei Tage vor der entscheidenden Aufsichtsratssitzung. Auch der skandinavische Finanzinvestor Cevian, der zu Zeiten von Konzernchef Hiesinger Unruhe schürte, lässt Merz ohne erkennbare Störmanöver agieren. In den Reihen der Arbeitnehmervertreter gibt es zuweilen Kritik, aber nicht in einem Ausmaß, das zu einer Palastrevolution führen könnte.
Über die Jahre hinweg hat Martina Merz Netzwerke im Ruhrgebiet gebildet. Gern tritt sie etwa mit den Chefs von RWE und Vonovia auf, Markus Krebber und Rolf Buch. Bei einem Kongress für weibliche Führungskräfte versammelt Merz einige Managerinnen aus dem Ruhrgebiet um sich.
Privates lässt die Thyssenkrupp-Chefin kaum an die Öffentlichkeit dringen. Ein wenig Glamour versprüht die Ortsmarke Paris ihrer kaum bekannten Twitter-Adresse. Sie träume davon, irgendwann einmal mit der Vespa von einem französischen Dorf zum nächsten zu fahren, sagte Merz kürzlich. Thyssenkrupp werde definitiv ihr letzter Job als Vorstandsvorsitzende sein.