Essen. Thyssenkrupp-Chefin Merz hebt trotz des Ukraine-Kriegs die Prognose in Teilen an. Doch es bleiben offene Fragen zur Zukunft des Konzerns.

Als Thyssenkrupp-Chefin Martina Merz an einem Abend Mitte März knapp drei Wochen nach Beginn des Ukraine-Krieges die Aktionäre in einer Börsen-Pflichtmitteilung auf negative Folgen für den Geschäftsverlauf angesichts „weitreichender gesamtwirtschaftlicher und geopolitischer Folgen“ einstellte, waren die Sorgen groß. Sollte der seit Jahren angeschlagene Essener Industriekonzern in den Sog der Krise gezogen werden?

Mit der Halbjahresbilanz, die das Unternehmen nun veröffentlicht hat, gibt Vorstandschefin Merz leise Entwarnung. Das Unternehmen habe Widerstandsfähigkeit bewiesen und die Ergebnisse deutlich verbessert, berichtet die Managerin, die den Konzern seit Oktober 2019 führt und deren Drei-Jahres-Vertrag wohl in absehbarer Zeit verlängert werden dürfte, falls keine Überraschung geschieht.

Die Geschäfte des Firmengruppe, zu der unter anderem Stahlwerke, Autozulieferfabriken, Werften und ein Werkstoffhandel gehören, laufen augenscheinlich besser, als es viele Anleger erwartet hatten. Zumindest gewinnt die Aktie von Thyssenkrupp nach der Veröffentlichung der Zwischenbilanz am Mittwoch deutlich an Wert.

Die Umsatz- und Ergebnisprognose für das Geschäftsjahr 2021/2022 hebt der Thyssenkrupp-Vorstand an – und steckt sich damit selbst höhere Ziele. Es gebe allerdings zwei Annahmen, die der Prognose zugrunde liegen. Erstens: Notwendige fossile Energieträger – insbesondere Erdgas – und Rohstoffe „müssen weiterhin uneingeschränkt verfügbar“ sein. Zweitens: Die Preise für Rohstoffe und Energie sollten sich für das restliche Geschäftsjahr auf dem durchschnittlichen Niveau des zurückliegenden Quartals bewegen. Das heißt: Im Falle eines Lieferstopps für russisches Erdgas könnte Thyssenkrupp die Umsatz- und Gewinnziele nicht erreichen.

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Unter den beschriebenen Annahmen soll der Umsatz „deutlich“ über den Zahlen des Vorjahres liegen und „im niedrigen zweistelligen Prozentbereich wachsen“, so der Vorstand. Bislang war von einem „Wachstum im mittleren einstelligen Prozentbereich“ die Rede. Für den operativen Gewinn („bereinigtes Ebit“) erwartet der Thyssenkrupp-Vorstand um Konzernchefin Merz nun „eine deutliche Verbesserung auf einen Wert von mindestens zwei Milliarden Euro“. Bisher war das Ziel: eine Verbesserung auf einen Wert zwischen 1,5 bis 1,8 Milliarden Euro.

Dauerthema Cashflow bei Thyssenkrupp

Darüber hinaus gibt es bei Thyssenkrupp nun auch wieder eine Prognose für die frei verfügbaren Finanzmittel („Free Cashflow vor M&A“). Diese war vom Vorstand im März nach Kriegsbeginn ausgesetzt worden. Das Management erwartet nun „eine signifikante Verbesserung gegenüber dem Vorjahr auf einen negativen Wert im mittleren dreistelligen Millionen-Euro-Bereich“. Im Vorjahr war sogar ein Minus von 1,3 Milliarden Euro angefallen.

Dass weiterhin mehr Geld aus dem Unternehmen abfließt, als reinkommt, ist schmerzlich. Das nächste Etappenziel sei „ein ausgeglichener Cashflow“, hat Konzernchefin Merz schon vor einiger Zeit unterstrichen. „Dem werden wir alles, was notwendig und vertretbar ist, unterordnen“, sagte sie im November 2020 – und betonte in der Sprache des Kapitalmarkts: „Stop the Bleeding.“ Ein finanzielles Ausbluten des Konzerns durch einen weiteren Mittelabfluss müsse verhindert werden.

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Finanzchef Klaus Keysberg gibt sich in einer Telefonkonferenz zur Halbjahresbilanz einigermaßen zuversichtlich. Durch den Ukraine-Krieg gebe es einen „temporären Effekt“, sagt er. In den kommenden Monaten kann Thyssenkrupp wohl auf vergleichsweise hohe Stahlpreise hoffen, die Verbesserungen bringen dürften.

Mit Blick auf den Jahresüberschuss rechnet der Vorstand für die Thyssenkrupp-Gruppe – wie bekannt – mit einem Wert von mindestens einer Milliarde Euro, nach einem Verlust in Höhe von 25 Millionen Euro im Vorjahr. Ein vorrangiges Ziel sei, den Aktionären wieder eine Dividende zahlen zu können, betont Finanzchef Keysberg. Ob es eine Gewinnausschüttung schon für das laufende Geschäftsjahr geben werde, ließ er noch offen.

Traditionell legt Thyssenkrupp schon im Mai eine Halbjahresbilanz vor, da das Geschäftsjahr des Konzerns stets im Oktober beginnt. „Trotz erschwerter Bedingungen“ etwa im Autozuliefergeschäft habe Thyssenkrupp „ein gutes zweites Quartal“ erlebt, sagt Vorstandschefin Merz. „Der Umbau macht sich jetzt schon bezahlt“, flankiert Keysberg.

Starke Abhängigkeit von der Autoindustrie

Thyssenkrupp ist stark von der Autoindustrie abhängig, die wiederum unter Lieferproblemen bei Halbleitern leidet – von einer Chip-Krise ist seit Monaten die Rede. Bei Thyssenkrupp sind auch daher Unternehmensangaben zufolge im April rund 2300 Beschäftigte in Kurzarbeit gewesen, davon etwa 1300 in der Stahlsparte. Im Mai erwarte er eine etwas bessere Lage, berichtet Keysberg.

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Kurz nach ihrem Amtsantritt hat Vorstandschefin Merz dem Unternehmen eine harte Sanierung verordnet. So sollten insbesondere auch in der Essener Konzernzentrale die Kosten sinken. Im zurückliegenden Geschäftsquartal, über das Thyssenkrupp nun Auskunft gibt, seien die Verwaltungskosten in der Zentrale weiter verringert worden, erklärt der Konzernvorstand. Der Betriebsverlust der Verwaltungseinheit habe nicht mehr wie im Vorjahr bei 49 Millionen Euro, sondern bei 36 Millionen Euro gelegen.

Erstmals seit vielen Jahren beschäftigt Thyssenkrupp weltweit weniger als 100.000 Menschen. In der aktuellen Zwischenbilanz gab Thyssenkrupp die Zahl der Mitarbeitenden im Konzern mit 97.542 an. Das sind rund fünf Prozent beziehungsweise 4764 Stellen weniger als im vergleichbaren Quartal vor einem Jahr, als der Traditionskonzern der Bilanz zufolge noch 102.306 Beschäftigte hatte.

Rund 8900 Jobs abgebaut – davon 1200 im ersten Halbjahr 2021/2022

Es habe in den vergangenen Monaten „weitere Fortschritte“ bei der „notwendigen Anpassung der Beschäftigung“ gegeben, so der Vorstand. Von den angekündigten mehr als 12.000 Stellen, die bis zum Geschäftsjahr 2023/2024 wegfallen sollen, habe Thyssenkrupp bereits rund 8900 Jobs abgebaut – davon etwa 1200 im ersten Halbjahr 2021/2022. Der Abbau sei „sozialverträglich“ erfolgt, also ohne betriebsbedingte Kündigungen. In den vergangenen Monaten schloss Thyssenkrupp unter anderem das Grobblechwerk in Duisburg. Zahlreiche Geschäfte wurden verkauft, darunter ein Edelstahlwerk im italienischen Terni und Aktivitäten rund um Bergbau und Infrastruktur.

Weiterhin auf der Tagesordnung stehen Pläne, die Dortmunder Thyssenkrupp-Tochterfirma Nucera an die Börse zu bringen, die Anlagen zur Wasserstoffproduktion herstellt. Es gebe Vorbereitungen, die einen Gang an den Kapitalmarkt schon in den kommenden Monaten ermöglichen sollen, so Finanzchef Keysberg.

Eine für den Konzern entscheidende Frage bleibt, wann Klarheit zum geplanten Bau einer neuen Anlage für die Stahlproduktion mit Wasserstoff am Standort Duisburg besteht. Noch bis zum Jahr 2025 könne der Hochofen 9 in Duisburg weiter betrieben werden, dann solle er durch die neue grüne Technologie abgelöst werden. Für die voraussichtlich mehr als eine Milliarde Euro teure sogenannte Direktreduktionsanlage hofft Thyssenkrupp auf staatliche Unterstützung – und entsprechendes grünes Licht der EU-Kommission. Es sei realistisch, dass der Staat etwa die Hälfte der Investitionsmittel zuschießen könnte, so Keysberg. Den Umstieg auf die neue Technologie bezeichnet er als „alternativlos“.