Essen. Thyssenkrupp-Chefin Merz sieht eine Trendwende – am Ziel sei der Konzern aber noch nicht. Einer Finanzkennziffer wolle sie „alles unterordnen“.

Für einen kurzen Augenblick benötigt Martina Merz bei der Bilanzpressekonferenz die Hilfe ihres Vorstandskollegen Oliver Burkhard. Wie viele Beschäftigte denn das Wasserstoff-Unternehmen habe, das der Konzern an die Börse bringen will, wird die Thyssenkrupp-Chefin gefragt. „Die Beschäftigtenzahl ändert sich dynamisch“, antwortet sie zunächst und schätzt dann: „Ich nehm‘ an, das liegt heute so irgendwie zwischen 120 und 150.“ Da springt ihr Burkhard verbal zur Seite und führt auf dem Podium in der Essener Konzernzentrale aus, die Zahl sei schon „ein bisschen höher“. Mit rund 300 Menschen sei das Unternehmen gestartet und liege aktuell bei etwa 400. Ein kurzer Augenblick, dann reagiert Merz wieder schlagfertig. „Ok, gut, wunderbar, freut mich“, sagt sie – und weiter geht’s im Text.

Gemessen an der Zahl von 100.000 Thyssenkrupp-Beschäftigten weltweit, handelt es sich beim Dortmunder Tochterunternehmen Uhde Chlorine Engineers tatsächlich um eine eher kleine Einheit im weit verzweigten Industriekonzern. Doch die Aufmerksamkeit für die Firma mit dem Kürzel UCE dürfte sprunghaft steigen angesichts der Pläne, die der Vorstand um Martina Merz verfolgt. UCE stellt Elektrolyse-Anlagen zur Wasserstoff-Produktion her und könnte vom Hype rund um den geplanten Aufbau einer klimaneutralen Industrie profitieren.

Thyssenkrupp will mit Wasserstoff „vom erwarteten Boom profitieren“

„Wir erwarten, dass nachhaltig erzeugter Wasserstoff in den nächsten Jahren einen großen Wachstumsmarkt darstellen wird“, sagt Merz. Thyssenkrupp wolle „vom erwarteten Boom profitieren“ – und ja, sagt Merz: „Wir streben einen Börsengang an.“ Bereits im Frühjahr könnte es soweit sein. Dabei wolle Thyssenkrupp in jedem Fall eine Mehrheit am Geschäft behalten. Momentan ist der Revierkonzern mit zwei Dritteln an UCE beteiligt. Ein Drittel gehört dem italienischen Unternehmen De Nora.

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Bei einem Börsengang, der das Potenzial für einen milliardenschweren Deal hat, will Thyssenkrupp Geld für einen Wachstumskurs im Wasserstoff-Geschäft einsammeln. „Als einer von wenigen Anbietern weltweit können wir schon heute Wasserstoff im Gigamaßstab produzieren“, sagt Merz.

Der Dortmunder Wasserstoff-Ableger gilt als Hoffnungsträger beim Essener Industriekonzern, der weiterhin zu kämpfen hat. Auch im Geschäftsjahr 2020/21, das im September zu Ende ging, floss mehr Geld aus dem Konzern ab, als in die Kasse kam, wie aus der aktuellen Bilanz hervorgeht. Bei der wichtigen Finanzkennziffer Free Cashflow verbuchte Thyssenkrupp ein Minus in Höhe von 1,3 Milliarden Euro. Das Netto-Finanzguthaben verringerte sich auf 3,6 Milliarden Euro – nach 5,1 Milliarden Euro zum Stichtag des Vorjahres.

Noch fließt mehr Geld aus der Konzernkasse ab als reinkommt

Konzernchefin Merz verspricht Besserung. „Die Trendwende ist erkennbar“, sagt sie. Das nächste Etappenziel sei „ein ausgeglichener Cashflow“. „Dem werden wir alles, was notwendig und vertretbar ist,

Thyssenkrupp-Chefin Martina Merz mit Personalvorstand Oliver Burkhard (links) und Finanzchef Klaus Keysberg.
Thyssenkrupp-Chefin Martina Merz mit Personalvorstand Oliver Burkhard (links) und Finanzchef Klaus Keysberg. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

unterordnen“. Das Ziel hatte Merz schon im vergangenen Jahr in englischer Sprache formuliert: „Stop the Bleeding.“ Ein finanzielles Ausbluten des Konzerns durch einen weiteren Mittelabfluss müsse verhindert werden. Zumindest einen ausgeglichenen Wert wolle der Vorstand im laufenden Geschäftsjahr erreichen, kündigt Finanzchef Klaus Keysberg an. „Einen positiven Cashflow konnten wir übrigens zuletzt im Geschäftsjahr 2015/16 verzeichnen“, sagt er zur Einordnung. Seit Jahren lebt der Konzern also von der Substanz.

Im Februar 2020 hatte der Vorstand entschieden, die prekäre Lage des Konzerns durch einen milliardenschweren Verkauf der Aufzugssparte mit rund 50.000 Jobs zu stabilisieren. Finanzinvestoren hatten sich mit der Essener RAG-Stiftung verbündet und TK Elevator – den damals lukrativsten Teil von Thyssenkrupp – übernommen.

Seit Monaten ist Thyssenkrupp auf einem Sanierungskurs. Mehr als 12.000 Stellen will der Vorstand bis zum Geschäftsjahr 2023/24 streichen. In den zurückliegenden zwei Geschäftsjahren habe das Unternehmen davon bereits rund 7800 Arbeitsplätze abgebaut – „sozialverträglich“, wie vom Vorstand betont wird. Derzeit beschäftigt Thyssenkrupp weltweit rund 100.000 Menschen.

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„Unsere Performance verbessert sich deutlich“, sagt Konzernchefin Merz, das spiegele sich auch in den Zahlen wider. Von Oktober 2020 bis September 2021 hat Thyssenkrupp eigenen Angaben zufolge Auftragseingänge von 39,6 Milliarden Euro verzeichnet, was einem Plus von 41 Prozent entspricht. Der Umsatz habe sich um 18 Prozent auf 34 Milliarden Euro verbessert. Das Betriebsgewinn („bereinigtes Ebit“) sei auf 796 Millionen Euro gestiegen – nach einem Verlust in Höhe von mehr 1,7 Milliarden Euro im Vorjahreszeitraum. Konjunkturell droht Thyssenkrupp allerdings Gegenwind. Merz verweist auf „Unsicherheiten wegen der Corona-Pandemie“ und Lieferengpässe bei Halbleitern, durch die wichtige Industriezweige wie etwa die Autobauer belastet würden: „Es bleibt also anstrengend, wir werden auch weiterhin kämpfen müssen.“

Machbarkeitsstudie zu möglicher Abspaltung der Stahlsparte

Zugleich äußert Merz die Erwartung, dass die Thyssenkrupp-Aktionäre nach mehreren Nullrunden im kommenden Jahr wieder eine Dividende erhalten sollen. Für den Jahresüberschuss rechnet der Vorstand auf Konzernebene mit einem Wert von mindestens einer Milliarde, dies wäre der höchste Jahresüberschuss seit dem Geschäftsjahr 2007/2008. Insbesondere hohe Stahlpreise könnten sich positiv auswirken.

Zu den Erwägungen des Vorstands gehört weiterhin auch, die Duisburger Stahlsparte vom Konzern abzutrennen. Wann es eine Entscheidung dazu geben wird, ließ Finanzchef Keysberg aber offen. Zunächst ist eine „Machbarkeitsstudie“ zu dem Vorhaben geplant.