Brüssel. Niemand in der EU arbeitet länger pro Woche als die Rumänen – obwohl die Löhne zu den niedrigsten in Europa zählen. Dafür, dass „die in Rumänien kommen und gehen, wann sie wollen“, wie Rüttgers jüngst im Wahlkampf spottete, gibt es in Studien und Statistiken keinen Beleg.

„Wenn alle Rumänen faul sind, dann bedeutet das auch, dass sich alle Deutschen nach der Arbeit betrinken und nur Würstchen essen“ – so wie die in Rumänien tätige Werbeagentur-Chefin Renate Roca-Rozenberg weisen auch andere Kenner des Landes die Vorwürfe von NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers zurück. Der Gewerkschaftsführer Mircia Giurgiu „stimmt überhaupt nicht mit der Beurteilung von Rüttgers überein“. Und Gerhard Köpernik, der Vorsitzende der deutsch-rumänischen Gesellschaft in Berlin, meint: "Das ist völliger Unfug. Wenn die Rumänen eine so niedrige Arbeitsmoral hätten, wäre die rumänische Wirtschaft seit 2006 nicht jedes Jahr um circa sieben Prozent gewachsen und hätten nicht immer mehr Unternehmen auch aus Deutschland in Rumänien investiert."

Keine Belege in Studien und Statistiken

Dafür, dass „die in Rumänien kommen und gehen, wann sie wollen“, wie Rüttgers jüngst im Wahlkampf spottete, gibt es auch in Studien und Statistiken keinen Beleg. Ganz im Gegenteil: In einem kürzlich vorgelegten Vergleich der tatsächlichen Arbeitszeiten in den 27 Ländern Europas steht Rumänien nicht etwa auf den hinteren Rängen – sondern auf Platz eins. Nach den Berechnungen der EU-Agentur für Lebens- und Arbeitsbedingungen hat ein vollbeschäftigter Arbeitnehmer in Bukarest, Cluj oder Craiova im vergangenen Jahr 41,8 Stunden pro Woche malocht. Das ist eine gute halbe Stunde länger als der – im EU-Vergleich ebenfalls sehr fleißige - Deutsche. Und das ist zugleich sage und schreibe fast dreieinhalb Stunden mehr als ein französischer Beschäftigter.

Außerdem liegen die 41,8 Stunden fast zwei Stunden höher als die tariflich vereinbarte Wochenarbeitszeit in vielen Branchen. Das spricht für eine hohe Bereitschaft, Überstunden zu machen. Umfragen des EU-Statistikamts signalisieren zudem, dass die Rumänen überdies noch jenseits ihrer offiziellen Tätigkeiten schuften. Denn nirgendwo in Europa ist der Anteil derer, die zugeben, sich regelmäßig noch ein paar Euro nebenbei bar auf die Hand zu verdienen, so hoch wie in Rumänien.

Der eifrige Einsatz ist noch bemerkenswerter, wenn man zugleich das äußerst niedrige Lohnniveau berücksichtigt. Arbeitgeber zahlten nach Berechnungen der Statistikämter im vergangenen Jahr für jede geleistete Arbeitsstunde in der Privatwirtschaft in Deutschland 29,80 Euro – in Rumänien hingegen 4,20 Euro. Nur in Bulgarien liegen innerhalb der EU die Arbeitskosten noch niedriger. Ein rumänischer Experte rechnet vor, dass ein Arbeiter für einen Job, der ihm in Deutschland ein Monatsgehalt von 1600 Euro beschert, in Rumänien nur mit 350 Euro rechnen kann.

Auch das Vorurteil, rumänische Arbeitnehmer stünden am Arbeitsplatz nur herum und seien weniger emsig als ihre Kollegen aus anderen Ländern, lässt sich nicht halten. Umfragen der Außen-Handelskammern bescheinigen den Rumänen in Sachen Leistungsbereitschaft zwar keine Glanznoten, aber immerhin doch bessere Zensuren seitens der Arbeitgeber als etwa Bulgaren, Esten oder Albanern. Und in der Tabelle der attraktivsten Industriestandorte in Mittel- und Osteuropa wäre Rumänien gewiss auch nicht im vorderen Mittelfeld zu finden, wenn Rüttgers mit seiner Einschätzung Recht hätte, dass die dortigen Arbeitnehmer arbeiten, wie sie gerade lustig sind. Fast 90 Prozent der deutschen Unternehmer, die sich in dem Balkanland angesiedelt haben, würden es übrigens wieder als Standort wählen, berichtet die Handelskammer in Bukarest. Zum Vergleich: In Litauen würde sich gerade mal jeder zweite Unternehmen abermals für ein Engagement entscheiden.

Viele gute Zensuren

Rüttgers hat über Rumäniens Arbeitnehmer außerdem behauptet, „sie wissen nicht, was sie tun“. Umfragen unter Arbeitgebern aus dem Westen kommen jedoch zu anderen Ergebnissen. So bewerten Firmen die Qualifikation der dortigen Arbeitnehmer besser als im Durchschnitt der Länder zwischen Balkan und Baltikum.

Die vielen guten Zensuren, die den Beschäftigten in Rumänien ausgestellt werden, sind freilich noch lange keine Garantie dafür, dass sich scharenweise Firmen ansiedeln – nicht einmal dafür, dass einmal angekommene Unternehmen bleiben. So hat Nokia nach der Umsiedlung von Bochum nach Cluj dort bereits das Personal wieder kräftig ausgedünnt. Aus dem Gewerbegebiet Tetarom haben sich zudem einige Zulieferer von Nokia verabschiedet, darunter die chinesische BYD und die skandinavische Hansaprint.

Dan Alexe ist EU-Korrespondent der rumänischen Tageszeitung Romania Libera, die zur WAZ-Gruppe gehört.