Mülheim. Die Gewerkschaft Verdi plant eine Strafanzeige gegen den Textil-Discounter Kik. Verdi wirft Kik vor, eine Verkäuferin aus Mülheim durch Lohndumping jahrelang ausgebeutet zu haben. Sie erhielt nur 5,20 Euro pro Stunde. Auch das Landesarbeitsgericht Hamm sieht im Fall Kik eine Straftat.
Ursula Grunwald hütet ihr Urteil in einem robusten DIN-A4-Umschlag. Sie beschützt den Richterspruch beinahe wie einen alten Liebesbrief oder ein wichtiges Familienfoto. Fehlen Ursula Grunwald für einen Moment die Worte, blättert sie in den 26 Seiten und sucht nach der passenden Formulierung „im Namen des Volkes”.
Im März entschied das Landesarbeitsgericht Hamm, dass die heute 62-jährige Verkäuferin vom Textil-Discounter Kik kontinuierlich mit einem sittenwidrig niedrigen Lohn abgespeist wurde. Fast sieben Jahre lang hatte die Verkäuferin aus Mülheim für einen Stundenlohn von 5,20 Euro gearbeitet – bis ihr auffiel, was eigentlich mit ihr geschah. Auslöser für die Klage sei ihre Verärgerung über eine junge, ehrgeizige Filialleiterin gewesen, die plötzlich unbezahlte Mehrarbeit verlangt habe.
Das Urteil gegen den Discounter ist mittlerweile rechtskräftig. Die Richter sprachen Ursula Grunwald einen Stundenlohn von 8,21 Euro zu. Den zu wenig gezahlten Lohn – immerhin fast 10 000 Euro – muss Kik nachzahlen.
"Flächendeckend unterträglich niedrige Löhne"
Doch die Gewerkschaft Verdi bezweifelt, dass der Discounter der Unternehmensgruppe Tengelmann aus der Niederlage vor Gericht gelernt hat. „Wir gehen davon aus, dass Kik flächendeckend unerträglich niedrige Löhne zahlte und dies auch weiterhin tun will”, sagt Folkert Küpers von Verdi in NRW.
Das Urteil ist auch deshalb beachtlich, da das Gericht zu der Einschätzung gelangt, dass im Fall der Kik-Verkäuferin der Straftatbestand des Lohnwuchers vorliegt. Laut Strafgesetzbuch wird Wucher mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder einer Geldbuße geahndet. Voraussetzung ist, dass erstens ein sittenwidriger Lohn gezahlt und zweitens die Ahnungslosigkeit oder eine Zwangslage der Betroffenen ausgenutzt wurde.
Vor dem Urteil hatte sich die Staatsanwaltschaft Dortmund bereits mit dem Fall befasst. Das Verfahren wurde allerdings eingestellt. „Es reichte nicht für eine Anklage”, sagt Oberstaatsanwältin Ina Holznagel. Eine Staatsanwaltschaft könne auch zu einer anderen Einschätzung gelangen als ein Arbeitsgericht. Verdi will das Verfahren neu in Gang setzen. „Wir wollen erneut Anzeige gegen die Kik-Geschäftsführung erstatten”, sagt die Verdi-Juristin Annette Lipphaus. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft ist es denkbar, dass der Fall Kik dann auf den Prüfstand kommt.
"Beschäftigte werden auch um Leistungen der Sozialversicherungen gebracht"
Einen Fragenkatalog dieser Zeitung wollte die Kik-Geschäftsführung nur allgemein beantworten. Kik distanzierte sich von dem Vorwurf, flächendeckend Lohndumping zu betreiben. Die Löhne seien markt- und branchenüblich. „Unsere Lohn- und Gehaltsstrukturen überprüfen wir regelmäßig und nehmen, wie im Fall der Stundenlöhne unserer Minijobber, Anpassungen vor.” Es sei bemerkenswert, „dass immer noch nicht zwischen Brutto- und Nettolöhnen unterschieden wird.” Kik zahle Aushilfen Nettolöhne – und darauf zusätzlich 30 Prozent Sozialversicherungsabgaben. Ähnlich argumentierte die Geschäftsführung in einem Schreiben an alle Teamleitungen in Deutschland: Bei Kik seien „fünf Euro gleich fünf Euro”. Es sei bedauerlich, dass die Verkäuferin nun Steuern und Sozialversicherungsbeiträge „rückzahlen” müsse.
„Durch diese Lohnpraktiken werden die Beschäftigten auch um Leistungen der Sozialversicherungen gebracht”, empört sich Folkert Küpers. Auch die Sozialkassen haben ein Auge auf die Vorgänge geworfen. Die Deutsche Rentenversicherung teilte mit, sie prüfe, ob das Urteil „über den Einzelfall hinaus Bedeutung für die Sozialversicherung hat”.
Ursula Grunwald lässt sich mit einem Gefühl der Genugtuung vor der Kik-Filiale in ihrer Nachbarstadt Oberhausen fotografieren. Hier bietet der Discounter Billig-Jeans für 4,99 Euro oder T-Shirts für einen Euro an. Mit einem Schild im Schaufenster sucht Kik nach Verkäuferinnen, die flexibel sind und sich ihrer Aufgabe „gewachsen fühlen”.