Duisburg/Essen. . Für Veranstalter von Karnevalsumzügen war der 24. Juli 2010 der Beginn einer neuen Zeitrechnung: „nach Duisburg“. Nach der Loveparade-Katastrophe wurden die Sicherheitsauflagen erheblich verschärft. Im Karneval kann man sich deshalb sehr sicher fühlen. Behörden pochen auf “gerichtsfeste“ Vereinbarungen.
Wenn am Sonntag der Hamborner Kinderkarnevals-Zug durch den Duisburger Norden fährt, haben vier Personen ein besonderes Handy dabei. Die Nummern kennt nur die Polizei. Der Zug ist in vier „Segmente“ unterteilt. Mit vier Verantwortlichen an deren Spitze. Sie sollen im Notfall koordinieren. Seit der Loveparade-Katastrophe in Duisburg stehen Großveranstaltungen unter besonderer Aufsicht. Auch der Straßenkarneval. In ganz NRW.
„Vor Duisburg war vieles anders“, sagt Wolfgang Swakowski, Organisator des Kinderkarnevalszugs in Hamborn und Marxloh. Für Veranstalter von Karnevalsumzügen war der 24. Juli 2010 der Beginn einer neuen Zeitrechnung: „Nach Duisburg“. Seitdem nehmen es die Kommunen besonders genau mit der Sicherheit.
Oberkarnevalist kritisiert „überzogene Sicherheit“
„Nach Duisburg wurde in den Ordnungsämtern so an den Vorgaben gedreht, damit keiner dort mehr Verantwortung übernehmen muss“, wettert Volker Wagner, Präsident vom Bund Deutscher Karneval, Dachverband der organisierten Karnevalsvereine. „Ich möchte absolute Sicherheit“, versichert Wagner, doch was in den Kommunen verlangt würde, sei „überzogene Sicherheit“, meint er. Ehrenamtler könnten den Aufwand bald nicht mehr leisten.
Einen Karnevalsumzug zu organisieren sei mittlerweile „ein Riesenaufwand“, sagt Wolfgang Swakowski. Das mittlerweile NRW-weit bei „Großveranstaltungen“ geforderte Sicherheitskonzept fülle in Duisburg zwei Aktenordner. Der komplette Zugweg habe von Hand vermessen werden müssen. Bevor der Zug am Sonntag zum mittlerweile 52. mal um 14.11 Uhr auf dem Hamborner Altmarkt startet, wurde die etwa sechs Kilometer lange Strecke mehrfach in den vergangenen Wochen abgelaufen. „Alles müssen wir dokumentieren“, sagt Swakowski. Festgehalten wird vorher ebenfalls wie viele Teilnehmer mitziehen werden. Die Zahl der Ordner ist festgelegt (z.B. zwei je Wagen-Achse). Und es musste vorher möglichst genau berechnet werden, „wie viele Personen am Zugweg stehen, wie viele Meter Fluchtweg es für sie gibt.“ Swakowski rechnet mit bis zu 70.000 Zuschauern. Karneval
Vier Monate Planung für zwei Stunden Narretei
Auch deutlich kleinere Umzüge müssen bis ins Detail verbindlich durchgeplant werden. Wobei es Karnevalisten ärgert, dass die Auflagen je nach Kommune unterschiedlich hoch sind. Etwa 5000 Zuschauer erwartet zum Beispiel Dirk Bonkhoff, Vorsitzender vom Kettwiger Karnevalsverein Blau-Weiß in Essen. Damit die Karnevalisten in Kettwig etwas zu feiern haben, hat sich Bonkhoff, von Beruf Bankkaufmann in Düsseldorf, jeden Abend zwei Stunden mit dem Zug beschäftigt. Seit November, als er im Essener Rathaus zum ersten Koordinierungsgespräch geladen wurde. „Dort saß ich Vertretern mehreren Behörden gegenüber“, erinnert sich Bonkhoff. Das Gespräch dauerte zweieinhalb Stunden. Die von der Stadt geforderten Auflagen, Absprachen und Verträge füllen mittlerweile einen Aktenordner. „Und da ist der Mail-Verkehr noch nicht dabei“, sagt Bonkhoff.
Alle zwei Jahre stellten die Kettwiger Jecken bis dato einen eigenen Umzug im Ort. Zuletzt 2010, wenige Monate vor der Loveparade in Duisburg. 2012 fiel er dann aus. „Eine buchstabengetreue Umsetzung aller Forderungen von Ordnungsamt oder TÜV würde optimistisch geschätzt etwa 10.000 Euro kosten. Allenfalls die Hälfte ließe sich gegenfinanzieren“, rechneten die Organisatoren damals vor. 2014 wollten sich die Ehrenamtler nicht mehr den Spaß versagen.
Rechtsvorschriften sind unverändert - sie werden jetzt nur angewandt
In den vergangenen vier Monaten blickt Bonkhoff auf „zig Telefonate“ mit Behörden zurück. Er hat der Stadt unter anderem detailliert aufgelistet, wie der Zug aufgebaut ist, welche Gruppen an welcher Stelle laufen. Die Trecker der Motivwagen müssen voll verkleidet sein, es braucht Absperrketten zwischen Zugmaschine und Wagen. Zwei Ordner - „Wagenengel“ - müssen je Achse mitgehen – „auch neben Bagagewagen will die Stadt Begleiter sehen“; man habe den Karnevalsvereinen deshalb geraten, ihr Wurfmaterial anderweitig zu transportieren. Mit jeder der Gruppen habe man einen Vertrag schließen müssen – „aus Haftungsgründen“, sagt Bonkhoff. Zudem brauche es an bestimmten Stellen am Zugweg besonders geschulte Ordner: 25 Kräfte mit IHK-Zertifikat waren dafür zu organisieren und sind zu bezahlen. Absprachen mit Evag, Stadtreinigung, Rettungsdiensten, Polizei folgten. Mit allen beteiligten Ämtern – von Straßen- bis Ordnungsamt – mussten einzeln Verträge geschlossen werden. Und das für letztlich vielleicht zwei Stunden Narretei in Kettwig.
„Es haben sich keine Rechtsvorschriften nach Duisburg geändert, sie werden jetzt nur sensibler angewendet“, sagt Harald Bräunlich. Er leitet die „Koordinierungsstelle Veranstaltungen“ im Essener Rathaus. Sie wurde eigens eingerichtet, um Veranstaltern von Großveranstaltungen zur Seite zu stehen. Bräunlich versichert: „Wir wollen Großveranstaltungen nicht verhindern, sondern ermöglichen“. Dass die Auflagen so detailliert sind habe jedoch einen Grund – einen juristischen: „Wir wollen grobe Fahrlässigkeit möglichst ausschließen“, sagt Bräunlich: Absprachen zu Großveranstaltungen sollten „so gerichtsfest wie möglich sein“. Für die Kommunen die wohl wichtigste Lehre aus der Loveparade-Katastrophe.
Land NRW stellt Sicherheitsauflagen im August zur Diskussion
So halten sich die Kommunen an den „Orientierungsrahmen“ vom Land NRW, der in Folge der Loveparade-Katastrophe von einer Projektgruppe erarbeitet wurde. Darin sind alle rechtlichen Bestimmungen für „Großveranstaltungen im Freien“ zusammengefasst. Der Projektbericht dazu ist 100 Seiten dick.
Versuche von Karnevalisten, NRW-Innenminister Ralf Jäger zum Abspecken der Sicherheitsauflagen zu bewegen, blieben bislang ohne Erfolg. Im Innenministerium weist man allerdings daraufhin, dass die Empfehlungen der Projektgruppe nach zwei Jahren „evaluiert“ werden sollen – also schon bald: Im August diesen Jahres sollen Kommunen, Vereine, Verbände und Schausteller vom Land deshalb befragt werden, heißt es im Ministerium.
"Man nimmt die mögliche Alleinschuld vom Veranstalter"
„Man kann Unglücke nicht verhindern, aber Reaktionen darauf regeln“, beschreibt Harald Bräunlich den Zweck der Sicherheitsauflagen. Die zudem auch für Veranstalter eine wichtige Hilfe sein – falls es tatsächlich zu einem Unglück kommt: „Man nimmt die mögliche Alleinschuld vom Veranstalter“. Denn es seien die Verantwortlichkeiten zwischen Behörden, Veranstaltern, Polizei und Rettungsdiensten „klar verteilt – nach innen und nach außen“. Details dazu aber regele jede einzelne Kommune für sich.
Manches an Sicherheitsanforderungen in Duisburg etwa verlange man in Essen deshalb nicht, sagt Bräunlich. Die Auflage mit den Handys im Duisburger Kinderkarnevalszug an Karnevalssonntag jedenfalls ruft bei ihm Kopfschütteln hervor: „Das Handynetz droht zusammenzubrechen, wenn viele Leute vor Ort sind“. Da reiche es schon, wenn nur wenige Tausend Besucher mit angeschalteter Mobilfunkverbindung in einer Funkzelle sind. In Essen werde bei Großveranstaltungen deshalb „ausschließlich über Funk kommuniziert“.