Essen. . Vor der Großen Koalition steht noch Basis-Abstimmung der SPD. Eine spontane Umfrage dieser Zeitung zeigt: Viele SPD-Mitglieder erkennen eine „sozialdemokratische Handschrift“ im Koalitionspapier. Gut möglich also, dass die Genossen zähneknirschend Ja sagen werden bei der Mitgliederbefragung. Aber so ganz sicher ist das nicht.

„Große Koalition – nein danke!“ Das war in den vergangenen Wochen der Standpunkt vieler, wenn nicht sogar der meisten Sozialdemokraten an Rhein und Ruhr. Die Erfahrungen aus der Regierung mit der Union beförderten diese „Nie-wieder-Haltung“ an der Parteibasis . Aber mit dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen setzt ein Umdenken ein. Eine spontane Umfrage unter Genossen zeigt: Noch immer träumt niemand von einer Großen Koalition. Aber viele fürchten die mögliche Konsequenz aus einem Nein der SPD-Mitglieder zum Koalitionsvertrag: Neuwahlen nämlich. Außerdem glauben die Mitglieder, die SPD habe sich in den Verhandlungen mit der Union ganz wacker geschlagen.

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Von Frank Stenglein und Marcus Schymiczek

„Die wichtigsten Forderungen der SPD finden sich im Koalitionsvertrag. Zum Beispiel der Mindestlohn, verbesserte Rentenleistungen und Hilfe für die Kommunen“, sagte Martina Schmück-Glock (Bochum), Vorsitzende der SPD-Fraktion im Ruhrparlament. Viele Sozialdemokraten seien im Herzen noch gegen die Große Koalition, so Schmück-Glock. „Aber wenn die SPD Politik mitgestalten will, ist es nicht zu vertreten, Nein zu sagen zum Koalitionsvertrag.“

„Diesen Vertrag muss man erst einmal in Ruhe lesen. Es heißt aber, dass der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn bis spätestens 2017 kommen soll. Das ist ein großer Fortschritt und die Mindestvoraussetzung für eine Regierungsbeteiligung der SPD. Der Mindestlohn hilft vielen Menschen im Land. Die Mitgliederbefragung ist übrigens ein Ausdruck höchster innerparteilicher Demokratie“, erklärte Dietmar Köster, SPD-Unterbezirksvorsitzender Ennepe-Ruhr.

Durchaus zufrieden ist auch Gudrun Hock, Bürgermeisterin und Ratsfrau in Düsseldorf: „Ich glaube, dass sich die SPD mit diesem Verhandlungsergebnis sehen lassen kann. Unsere zentralen Forderungen stehen im Vertrag Nun ist die Frage, ob die SPD-Mitglieder den Mehrheits-Wunsch der Bevölkerung nach einer Großen Koalition akzeptieren und diese Koalition als Chance sehen. Ich sehe das jedenfalls als eine Chance. Andere werden aber weiter denken: In einer Großen Koalition kann die SPD nur verlieren.“

„Der Koalitionsvertrag trägt offenbar eine sozialdemokratische Handschrift“, glaubt Gerhard Hendler, Bezirksvertreter in Dortmund-Huckarde und Vorsitzender des Ortsvereins Mailoh. „Dass der Mindestlohn durchgesetzt wird, hat für uns Sozialdemokraten einen hohen Symbolwert. Es gibt eine Chance, dass die Partei das Verhandlungsergebnis akzeptiert. Aber die Basis wird in den nächsten Tagen sehr kritisch hinhören, wenn der Vertrag in den Regionalkonferenzen und Ortsvereinen vorgestellt wird. Dass wir Mitglieder gefragt werden, ist für mich gelebte Demokratie.“

Der Wittener SPD-Fraktionschef Thomas Richter hat wie viele seiner Genossen bisher nur oberflächliche Informationen über den Koalitionsvertrag. „Ich höre, dass der Mindestlohn kommen soll. Das ist extrem wichtig. Als Ratsmitglied freue ich mich sehr über das Bekenntnis von SPD und Union, die Kommunen bei der Eingliederungshilfe um fünf Milliarden Euro zu entlasten. Da kann ich nur sagen: Glück auf für die Kommunen! Heute haben mich auch Arbeitnehmer darauf angesprochen, ob sie künftig mit 63 in Rente gehen können. Die abschlagsfreie Rente mit 63 ist für viele ein Thema. Wenn der Vertrag wirklich diese sozialdemokratische Handschrift trägt, dann sollte sich die Partei ein bisschen zurückziehen von ihrem bisherigen Nein zur Großen Koalition.“

"Der Bundestag muss normal arbeiten können" 

„Die Bürger haben abgestimmt, und man kann der Bundesrepublik jetzt keine Neuwahlen zumuten. Der Bundestag muss normal arbeiten können“, findet Diana Huber, die Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Duisburg-Wedau. „Natürlich steht in diesem Koalitionsvertrag nicht zu 100 Prozent das, was die SPD-Wähler wollten. Aber der Mindestlohn steht drin und Verbesserungen bei der Rente, und das sind schon mal zwei Kernforderungen von Sigmar Gabriel.“ Diana Huber zählt sich zu jenen, die eigentlich nicht mit der Großen Koalition einverstanden sind. „Ich sage mal, das geht 88 Prozent der Mitglieder genauso. Dennoch werde ich diesem Koalitionsvertrag zustimmen.“

Hin- und hergerissen ist Dieter Janßen, Bezirksbürgermeister in Oberhausen-Sterkrade. Er ist nicht richtig glücklich mit diesem Vertrag. „Es irritiert mich sehr, dass die 8,50 Euro Mindestlohn nicht sofort, sondern erst später kommen sollen. Dass es zunächst noch Ausnahmen vom Mindestlohn geben soll. Ich weiß, dass die meisten Menschen außerhalb der SPD mit einer Großen Koalition einverstanden sind, und ich werde wohl schweren Herzens zustimmen.“

Durchaus zufrieden mit dem Ergebnis der Verhandlungen ist Gabriele Preuß, Bürgermeisterin in Gelsenkirchen und Vorsitzende der SPD Bismarck. „Viele in der SPD erinnern sich mit Unbehagen an die letzte Große Koalition. Aber ich habe den Eindruck, dass die SPD diesmal besser verhandelt hat als damals. Sozialdemokratische Forderungen spiegeln sich doch relativ deutlich in dem Vertrag. Nun werden die SPD-Mitglieder auch in Gelsenkirchen die Gelegenheit haben, sich aus erster Hand über die Verhandlungen zu informieren. Die Stimmung ist so: Wenn wir als SPD viel erreicht haben, dann kann man dieser Großen Koalition auch zustimmen.“

Selbst einige junge Sozialdemokraten verabschieden sich von ihrem bisher harten Nein zur Großen Koalition. Zum Koalitionsvertrag erklärt Veith Lemmen (29), Landesvorsitzender der Jungsozialisten (Jusos): „Es gibt nach wie vor Skepsis bei vielen Jusos, aber es stehen auch einige positive Dinge im Koalitionsvertrag. Wir wollen, dass von der SPD transparent dargestellt wird, was in den Gesprächen erreicht und was eben auch nicht durchgesetzt wurde. Wir werden jedenfalls erst einmal in Ruhe lesen, Vor- und Nachteile bewerten, bevor wir mit kühlem Kopf entscheiden, wie wir abstimmen werden.“

Der stellvertretende Juso-Chef in Dortmund, Mehmet Aldemir (26), ist weniger diplomatisch als der Juso-Vorsitzende NRW: „Ich bin nach wie vor gegen eine Große Koalition, denn vieles von dem, wofür wir Jusos im Wahlkampf gestritten haben, wurde nicht durchgesetzt. Zum Beispiel ein grundsätzliches Ja zur doppelten Staatsangehörigkeit. Es bleibt auch unklar, ob gleichgeschlechtliche Paare Kinder adoptieren können. Ich fürchte, dass die SPD-Mitglieder diesen Koalitionsvertrag mit Bauchweh akzeptieren werden. Denn bei Neuwahlen könnte die FDP wieder ins Parlament kommen.“

Noch sehr skeptisch ist Ulla Pulpanek-Seidel, Ratsfrau in Dortmund und Vorsitzende der dortigen Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF): „Es gab ein Zehn-Punkte-Programm der SPD, zehn Kernforderungen für einen Koalitionsvertrag. Und von diesen zehn Punkten finde ich vielleicht drei oder vier in den Vereinbarungen wieder. Klar, der Mindestlohn ab 2015 wäre gut. Aber ich frage mich: Ist das wirklich ein Vertrag für die kleinen Leute? Ich finde es natürlich gut, dass in Bildung, Kitas, Schulen investiert werden soll. Dass wahrscheinlich die klammen Kommunen spürbar entlastet werden. Aber woher soll das Geld dafür kommen? Diese Milliarden müssen ja erst finanziert werden.“

Noch etwas bereitet Pulpanek-Seidel Unbehagen: „Ich sehe schwarz, wenn wir bis 2017 Juniorpartner in einer Großen Koalition bleiben. Wir haben ja schon diese Erfahrung. Was wird passieren? Rutscht die SPD unter 20 Prozent? Das ist meine Sorge. Und die Pkw-Maut, die Seehofer ausgehandelt hat, passt mir gar nicht.“