Guatemala-Stadt. . Wenn sein Vater getrunken hatte, schlug er gnadenlos zu – Der zehnjährige Justin aus Guatemala braucht immer noch Hilfe. Der Verein Conacmi unterstützt ihn beim Weg zurück ins Leben.
Auf den ersten Blick sieht Justin nicht arm aus. Aber er ist ein armer Kerl. Ein übergewichtiges Kind unter Millionen unterernährten in Guatemala. Justin hat sich ein dickes Fell angefuttert: sein Schutzmantel gegen die Schläge des Vaters, das Trostpflaster der Oma, die versucht, seinen Schmerz mit Schokolade zu lindern.
„Ich hatte vor vielen Sachen Angst“, sagt Justin mit vollen Backen, er löffelt ein Eis, die Oma hat Kekse hingestellt und süße Limonade. Angst, in die Schule zu gehen, auch in Guatemala werden die dicken Kinder gehänselt, Angst, alleine zu sein; einer wie Justin findet schneller Feinde als Freunde. Angst, dass die Mama weggeht oder der Papa, dass sie ihn gleich beide verlassen. Und eigentlich ist auch fast alles so gekommen.
Justin ist jetzt zehn Jahre alt, aber die Angst war schon da, da war er nicht einmal fünf. Der Vater trank. Wenn er besoffen heim kam in das Viertel am Rande der Stadt, stritt er mit der Mutter, die er einst ebenso besoffen geschwängert hatte. „Um alles Mögliche“ zankten sie, sagt Vater Alfredo heute, „stimmt nicht“, unterbricht ihn Justin, „es ging immer um deinen Alkohol.“ Er ist inzwischen sehr mutig darin, solche Dinge zu sagen, die ganze Wahrheit aber sagt er nicht: dass der Vater die Mutter schlug, auch sein Kind ohne Sinn und Verstand.
Eltern betrachten Kind als Besitz
„Er hat immer noch Angst“, sagt seine Psychologin Gloria Solares, „dass er wieder vor Gericht muss. Dass er auch seinen Großeltern entzogen wird.“ Irgendwann nämlich stritten die Eltern auch um ihren Sohn. Erpressten sich gegenseitig: sie ihn mit der Drohung, ihn anzuzeigen. Er sie andersherum – Justins Mutter ist eine Illegale in Guatemala, kam als Prostituierte aus dem benachbarten El Salvador. Dazwischen das weinende Kind: „Ich habe immer alles gehört, Papa.“ Alfredo aber dachte damals, „der ist noch so klein, der versteht nichts“.
Natürlich könnte dies auch eine deutsche Geschichte sein, man würde vielleicht sagen: kaputte Verhältnisse, ein Prekariats-Kind. Aber in Guatemala, wo so viele Eltern trinken, werden Kinder lebensbedrohlich geprügelt; einer Studie zufolge stirbt jeden zweiten Tag eines durch elterliche Züchtigung. Auch, wenn, wie bei Justin, die Eltern beteuern, ihren Sohn zu lieben: Nachwuchs ist in dieser Gewalt-Gesellschaft ein Besitztum, ein Mensch zwar, aber rechtlos.
Großeltern zeigen eigenen Sohn an
Bei Justin waren es schließlich die Großeltern, die ihren eigenen Sohn anzeigten – da war der gerade für Tage mit dem Kind verschwunden: „Wir hatten Angst, er würde den Jungen verkaufen.“ Sie nahmen den Enkel auf, übernahmen das Sorgerecht, brachten Justin zu Conacmi, der Hilfsorganisation für misshandelte Kinder, die diese Zeitung in diesem Jahr mit einer Spendenaktion unterstützt. Conacmi half dem Vater vielleicht sogar mehr als dem Sohn: Die Elterntherapie, die Voraussetzung ist für die Therapie ihrer Kinder, sie gab ihm den Anstoß, eine Entziehungskur zu machen. „Conacmi hat mein Leben verändert“, sagt Alfredo. „Den Sinn meines Lebens.“
Alfredo lebt nun ebenfalls im Haus der Großeltern, seine Ex-Frau ruft täglich an. Zum Geburtstag hat sie Justin ein kleines Keyboard aus Plastik geschenkt, er sucht darauf jetzt „Töne, die zusammenpassen“. Gerade liest der Zehnjährige den „Kleinen Prinzen“, er kann die Geschichte schon erzählen, so gut, wie er Witze erzählen kann – besonders mag er das Schaf. Er geht jetzt auch gern in die Schule, und die Oma muss nicht einmal mehr mit. Gerade hat er die dritte Klasse geschafft.
Oma verschenkt Süßigkeiten gegen Kummer
Aber Justins Probleme sind damit noch nicht vorbei. Die Eltern gaben ihm Saures, die Oma gibt ihm nun Süßes. Sie versucht, den Kummer zu vertreiben, aber erreicht damit nur Kummerspeck. „Auch das ist eine Form der Misshandlung“, sagt Conacmi-Psychologin Solares. Sie weiß, dass Justin ihre Hilfe auch weiterhin braucht.
Die staatlichen Stellen aber helfen nicht mehr: Für die Gerichte ist der Fall abgeschlossen, die Sorgerechtsfrage geklärt, der Vater trocken, und schließlich ist nicht zu übersehen: Justin hat genug zu essen. Nur ist das auch in einem armen Land nicht alles.