Wahington. .
Es ist ein Desaster für die US-Diplomatie. WikiLeaks hat 250.000 geheime und vor allem brisante Dokumente veröffentlicht. Die US-Regierung ist aufgebracht, ohnmächtig muss sie dem Geschehen zusehen.
Aufgebracht hat die US-Regierung auf die Veröffentlichung der vertraulichen internen Korrespondenz zwischen US-Botschaften in aller Welt und der Zentrale in Washington reagiert. Kaum hatte die „New York Times“ am Sonntagnachmittag erste Auszüge aus dem umfangreichen Datenpaket auf ihre Webseite gestellt, ließ Präsidentensprecher Robert Gibbs eine vorbereitete Erklärung verbreiten. Die Veröffentlichung der internen Einschätzungen „kompromittieren private Diskussionen mit Regierungen anderer Staaten oder Oppositionsführern“. Den Inhalt solcher Gespräche öffentlich zu machen, könne „nicht nur Amerikas außenpolitischen Interessen, sondern auch den Interessen unserer Alliierten und Freunde in der ganzen Welt schaden“.
Für die US-Dplomatie ist die Veröffentlichung der rund 250.000 Dokumente, überwiegend aus den letzten drei Jahren, der Super-Gau schlechthin. Amerikas Berufsdiplomaten und das State Department in Washington sehen sich nun vor aller Welt bloßgestellt. Zwar trägt keine der veröffentlichten Depeschen den Stempel der allerhöchsten Geheimhaltungsstufe. Der übergroße Teil der Dokumente, die die Enthüllungsplattform Wikileaks an ausgewählte Medien weiter gereicht hatte, ist lediglich als „vertraulich“ eingestuft oder trägt überhaupt keine Klassifizierung.
Ohne diplomatische Schnörkel
Was ist Wikileaks?
Enthüllen und aufklären – das wollen die Erfinder von WikiLeaks. Auf ihrer Homepage werden geheime Dokumente veröffentlicht, die Skandale aufdecken: über die Kundus-Affäre, über Scientology - und aktuell Zehntausende US-Berichte.
Auf der Internet-Plattform WikiLeaks kann jeder anonym Dokumente veröffentlichen, wenn sie im öffentlichen Interesse stehen. So wurden auf der Plattform bereits Unterlagen, die Steuertricks der Schweizer Privatbank Julius Bär offenbaren, Handlungsanweisungen für das US-Gefangenenlager Guantanamo und geheimes Scientology-Material oder die Mitgliederliste der rechten British National Party veröffentlicht. Auf WikiLeaks wurden auch große Teile der Kundusakte sowie ein Video öffentlich gemacht, das zeigte, wie US-Soldaten in Bagdad unbewaffnete Zivilisten erschießen.
Dabei prüft Wikileaks nach eigenen Angaben jedes Dokument auf seine Echtheit. Das Restrisiko, auf eine Fälschung hereinzufallen, liege bei höchstens einem Prozent. Um die Informationen öffentlich zu machen, wurde ein System „für die massenweise und nicht auf den Absender zurückzuführende Veröffentlichung von geheimen Informationen und Analysen“ geschaffen, wird auf der Homepage behauptet. Serverkosten, Registrierungs-Gebühren, Bankgebühren und Bürokratie-Kosten werden durch Spenden von Privatpersonen finanziert. Geld von Unternehmen oder Regierungen nimmt WikiLeaks laut Erfinder Julian Assange nicht an. (vk)
Lediglich 11000 Dokumente tragen tatsächlich die Einstufung „geheim“. Weitere 9000 sollten keinesfalls an andere Regierungen weitergegeben werden. Doch zur Veröffentlichung waren die freimütigen internen Einschätzungen und Lageberichte ohne diplomatische Schnörkel, die außenpolitische Entscheidungen mit beeinflußen, tatsächlich nie bestimmt. Entsprechend nervös und hochgradig alarmiert hatte die US-Regierung schon im Vorfeld auf die bevorstehende Veröffentlichung reagiert.
Befreundete Regierungen, darunter auch das Berliner Kanzleramt, wurden vorab informiert, um den Fluschaden zu begrenzen. Überstunden am Telefon machten Außenministerin Hillary Clinton und andere Spitzen des US-Außenamtes in den letzten Tagen, um Verbündete von Saudi-Arabien über Großbritannien bis Frankreich und Deutschland vorzuwarnen und zu besänftigen.
Guantanamo bringt „preiswerte Prominenz“
Mit welchen Kungelgeschäften Washington etwa befreundete Länder dazu bringen wollte, Häftlinge aus dem Gefangenenlager Guantanamo aufzunehmen, lässt sich nun nachlesen. Slowenien wurde ein Besuch Obamas im Gegenzug für die Aufnahme eines Häftlings versprochen. Belgien wurde damit gelockt, „preiswerte Prominenz“ zu erlangen, wenn es Gefangene aufnehme.
Neben diplomatischen Verstimmungen und Verwerfungen fürchtet US-Präsident Barack Obama aber auch politische Rückschläge, etwa im ohnehin fragilen Verhältnis zu Moskau. Kritische Einschätzungen bis hin zu ehrenrührigen Äußerungen über russische Spitzenpolitiker, die sich in den Kabelberichten der Moskauer Botschaft finden, könnten überdies den heimischen Gegnern des amerikanisch-russischen Abrüstungsvertrages in die Hände spielen. Die Verabschiedung des Abkommens im US-Senat, die Obama eigentlich bis Ende des Jahres über die Bühne gebracht haben will, steht angesichts des Widerstands in den Reihen der Republikaner ohnehin auf der Kippe.
Öffentliches Interesse?
Über das Wochenende hatte die US-Regierung den Druck auf Wikileaks erhöht, um die Veröffentlichungen noch zu stoppen. Der Chefanwalt des US-Außenministeriums, Harold Honju Koh, warf den Plattformbetreibern vor, die Dokumente unter „Verletzung der US-Gesetze und ohne Rücksicht auf die gravierenden Folgen dieser Aktion“ zu verbreiten. Von einem „sehr, sehr gefährlichen Präzedenzfall“ sprach US-Generalstabschef Mike Mullen.
Die „New York Times“ wiederum verteidigte die Veröffentlichung ausgewählter Depeschen mit dem öffentlichen Interesse, „Ziele und Erfolge, Kompromisse und Frustrationen der US-Diplomatie“ aufzuzeigen. Spekuliert wird in den USA derweil über die Quelle des jüngsten Datenlecks. Dringend verdächtig ist offenkundig einmal mehr der frühere US-Soldat Bradley Manning. US-Militärs machen den 23-Jährigen bereits für die Weitergabe von Hunderttausenden von Dokumenten aus dem Irak- und Afghanistan-Krieg an Wikileaks verantwortlich. Der frühere Nachrichtenanalyst aus Maryland sitzt seit seiner Verhaftung im Irak inzwischen in einem Militärgefängnis im Bundesstaat Virginia in Haft. Dass Manning die einzige undichte Stelle gewesen sein, bezweifeln indes immer mehr Blogger auf den US-Webseiten.