Witten. Sie fallen gleich auf, wenn sie in ihrer Kluft durch Witten laufen. Leopold und Georg, Handswerksgesellen auf Wanderschaft. Das haben sie erlebt.

Was sind denn das für Burschen? Gerade die Jüngeren unter uns dürften sich die Augen reiben, wenn sie am Freitag (5.4.) Georg und Leopold in der Wittener Fußgängerzone begegnet sind. Die beiden tragen ein in Tüchern gewickeltes Bündel über der Schulter und dazu einen zünftigen Wanderstock aus Buche.

Leopold, mit 19 der Jüngere, hat eine schwarze Melone auf dem Kopf, er trägt ein dunkles „Jacket“ mit großen weißen Knöpfen, darunter eine blaue Weste und ein weißes Hemd, außerdem blaue Hosen mit „Hamburger Streifen“. Das Blau steht für das Metall-Gewerk, das er als gelernter Schmied vertritt.

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Zur typischen Kluft von Georg (23), dem Zimmerer, zählen ein schwarzer Zylinder, ebenfalls ein dunkles Jacket, aber mit Cordbesatz, ein roter Schlips und dunkle Hosen mit rotem Streifen. Bei ihm ist es also die Farbe Rot, die besonders auffällt. Sie steht für die Vereinigung, der er angehört. Sie nennt sich „Fremder Freiheitsschacht“.

1910 in Bern gegründet, pflegt diese als liberal geltende Zunftgemeinschaft „den Brauch für Bauhandwerksgesellen, nach der Lehrzeit auf Wanderschaft zu gehen“, wie es auf deren Homepage steht. Damit ist auch schon erklärt, was es heißt, „auf der Walz“ zu sein.

Georg kommt aus Augsburg und ist schon seit über zwei Jahren unterwegs. Leopold stieß erst im März dazu. Sie sind sich auf einem Gesellentreffen begegnet. Leopold hat den Älteren gefragt, ob der ihn für ein paar Monate begleitet. So wie es üblich ist, wenn junge Handwerker auf Wanderschaft gehen.

Der Ältere zeigt dem Jüngeren, wie man sich auf der Wanderschaft verhält

„Ich zeige ihm alles“, sagt Georg, „wie man trampt, wie man sich einen Schlafplatz sucht, wie man sich allgemein verhält.“ In der Nacht auf Freitag haben sie in einer Studenten-WG in Witten geschlafen, nachdem man sich vorher in einer Kneipe getroffen hat.. Es kann schlechter laufen, wie vor einigen Tagen in Büsum an der Nordsee.

„Tagsüber habe ich noch Olaf Scholz getroffen und kurz mit ihm geschnackt. Abends habe ich in einer Tiefgarage gepennt“, erzählt Georg. In der Schweiz habe er sogar in einem Pferdestall übernachtet. „Dort hat gerade der Schweizer Nationalzirkus gastiert. Ich durfte mir dann noch die Vorpremiere ansehen.“

Hotel ist nicht, zumal beide nur wenig Geld haben. „Wir gehen mit fünf Euro los und auch wieder nach Hause“, beschreibt Georg eine der festen Regeln, die für Wandergesellen gelten. Handy? Verboten. Also nichts mit „Google Maps“. Gefragt, wie sie dann ihren Weg finden, zückt Leopold eine Landkarte. Heute geht‘s von Witten weiter nach Bonn.

Die beiden jungen Männer setzen mit ihren Wanderjahren eine jahrhundertehalte Tradition fort. Voraussetzung ist eine abgeschlossene Berufsausbildung in einem Handwerksberuf. Unterwegs fragen sie nach Arbeit. „Oder man wird angesprochen.“ Maximal drei Monate dürfen sie an einem Ort bleiben. Was sie verdienen? „Das ist Verhandlungssache. Wir arbeiten viel für Kost und Logis.“

Von Island bis Sizilien

Momentan sind sie noch in Deutschland unterwegs, aber Georg hat schon viel mehr gesehen und erlebt. „Das Nördlichste war Island, das Südlichste Sizilien.“ Auf beiden Inseln war er im Holzbau tätig. „Man nimmt einen großen Erfahrungsschatz mit“, sagt der Zimmerer. Beide genießen vor allem ihre Freiheit. „Ich will mir die Welt noch mal anschauen, bevor ich mich festsetze. Man wird nicht dümmer dadurch“, sagt Leopold, gefragt, warum er diesen alten, mit vielen Entbehrungen verbundenen Brauch als 19-Jähriger überhaupt noch pflegt.

In seiner Heimat in Sachsen sind sie gemeinsam gestartet. Über den Spreewald, Hamburg, Celle und Hannover ging es ins Ruhrgebiet, wo die WAZ sie am Freitag auf dem Berliner Platz getroffen hat. „Manchmal hat man einen Plan, manchmal guckt man nur, was auf einen zukommt“, sagt Georg.

Er ist durch einen Berufsschullehrer, der davon geschwärmt hat, auf die Idee gekommen, loszulaufen. „Wir sind frei, auch von Schulden“, sagt Georg. Unterwegs sammeln sie in ihrem Wanderbuch als Stempel die Siegel der einzelnen Städte, die sie besuchen, und alle Arbeitszeugnisse. In drei Jahren „und einem Tag“ dürfte da einiges zusammenkommen. Die Wanderjahre sollen mindestens so lange wie die Ausbildung dauern. Ob es sie am wieder nach Hause zieht?

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Das wissen sie noch nicht. Es gibt übrigens eine Bannmeile von 50 Kilometern. Näher dürfen sie der Heimat während ihrer Wanderschaft nicht kommen. So, jetzt aber genug geredet. Es wird Zeit, dass die beiden wieder loskommen. Bleibt nur noch das Geheimnis ihres Ohrrings zu lüften, den alle Wandergesellen tragen.

Das Schmuckstück aus Metall wurde ihnen zu Beginn der Wanderschaft mit einem Nagel gestochen. „Wenn man losgeht, wird man festgenagelt, drei Jahre rechtschaffen zu sein“, sagt Georg. In diesem Sinne wünschen wir einen guten Weg - oder, wie es in der Zunft üblicher ist - eine „fixe Tippelei!“