Witten. Mostafa kam mit einem Schlauchboot nach Europa. Nun arbeitet er als Elektriker in Witten. Er sagt: Flüchtlinge müssen Verantwortung übernehmen.
Martin Bartelworth staunte nicht schlecht, als er sah, wer da vor der Tür stand, um ihm seine neue Wärmepumpe einzubauen. Mostafa Al Hajtaher war vor ein paar Jahren erst im Flüchtlingshaus der Creativen Kirche an der Arndtstraße untergekommen, Geschäftsführer Bartelworth hatte damals seinen Mietvertrag unterschrieben. Allein, ohne Geld, ohne Sprachkenntnisse war der junge Syrer gekommen. Inzwischen steht er auf eigenen Beinen, arbeitet als Elektriker und kann seine kleine Familie versorgen. Eine Fluchtgeschichte mit Happyend – der 32-Jährige hat sie uns erzählt.
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Mostafa ist einer von denen, die in der großen Flüchtlingswelle Ende 2015 nach Deutschland gekommen sind. In Syrien hätte der damals 24-Jährige zum Militär gemusst. „Aber ich wollte nicht in diesen Krieg, ich wollte nicht töten“, sagt er. Deshalb verlässt er Freunde, Eltern und Geschwister und macht sich am 12. Oktober auf den Weg in eine ungewisse Zukunft.
Wo Firmen wie Miele und Bosch sitzen, muss es gut sein
Sein Ziel steht fest: Deutschland. Ersatzteile von Miele, Bosch und Siemens hatte er in der Elektrofirma seines Vaters verbaut. „Ich dachte mir: Wo solche Sachen herkommen, da muss es gut sein.“ Von Aleppo führt ihn sein Weg über den Libanon in die Türkei. Mostafa hat Glück. Für 800 Dollar bekommt er einen Platz in einem der Schlauchboote, die Richtung Griechenland übersetzen. Eine Fahrt mit ungewissem Ausgang. „Für unser Schiff war es der sechste Versuch, das Ufer zu erreichen“, sagt er.
Zusammen mit 54 anderen Flüchtlingen zwängt sich Mostafa in das nur sieben Meter lange Boot. „Eine Frau saß auf meinen Füßen. Ein Mann am Rand wäre beinahe über Bord gegangen, weil er kurz eingenickt ist“, erinnert sich der heute 32-Jährige. Sieben Stunden dauert die Überfahrt in der Nacht, ohne Navi, ohne Steuermann. „Wir sind dahin gefahren, wo wir Licht sahen.“
Das Schlauchboot reißt kurz vor dem rettenden Ufer auf
Beinahe hätten sie es im siebten Anlauf ohne Probleme geschafft. Doch kurz vor dem rettenden Ufer rammt das Boot einen Felsen und reißt auf. „Wir haben rasch alles Gepäck über Bord geworfen, um Ballast loszuwerden.“ Es gelingt ihnen, das Ufer zu erreichen. „Da dachten wir, wir hätten das Schlimmste überstanden“, sagt Mostafa leise. „Aber das Schlimmste kam erst noch.“
15 Kilometer läuft die Gruppe zu Fuß zum nächsten Sammelpunkt. Die Syrer fühlen sich in Griechenland willkommen. „Menschen haben uns auf dem Weg mit Essen und Trinken versorgt.“ Doch nach zwei Wochen müssen Flüchtlinge das Land verlassen. Mostafas Flucht geht weiter, zu Fuß und mit Bussen über Mazedonien, Serbien, Kroatien – die Balkanroute. Mehrere Tage muss er an der kroatischen Grenze ausharren. Hungrig, verloren, verfroren.
Im Flüchtlingsheim war es für Mostafa schlimm
Viele aus der Gruppe bleiben in Österreich. „Sie hatten keine Kraft mehr, weiterzugehen.“ Doch Mostafa schafft es bis nach Deutschland. Ihm wird ein Platz in der Flüchtlingsunterkunft Mainz-Kastel zugewiesen. Sieben Monate lebt er in dem Heim, zu sechst auf einem Zimmer. „Es war sehr schlimm.“
Mostafa will da raus, will arbeiten. Eine alte Frau, die sich ehrenamtlich um die Flüchtlinge kümmert, hilft ihm bei der Suche. Eine Elektrofirma würde den jungen Mann, der in der Heimat Elektrotechnik studiert hat, beschäftigen. Doch Mostafa darf noch kein Geld verdienen. „Deswegen habe ich erstmal ein Praktikum gemacht.“
Als im Sommer 2016 die Aufenthaltserlaubnis endlich da ist, wird es leichter. Mostafa wird in Teilzeit übernommen, kann endlich ausziehen. Ein Jahr später will er dann weg aus Bad Homburg. Er möchte ins Ruhrgebiet ziehen. Denn bei seiner Schwester, die inzwischen in Essen lebt, hat der junge Syrer eine Frau kennengelernt. Nema, die geflohen ist so wie er. Nema, die in Witten wohnt.
Integrationshelfer der Creativen Kirche gibt Mostafa eine Wohnung
Doch das Jobcenter sagt nein. Flüchtlinge müssen drei Jahre in einer Stadt bleiben, sonst gibt es kein Geld. Mostafa geht trotzdem. „Ich wollte ja kein Hartz IV, ich wollte auf eigenen Füßen stehen.“ Keine Arbeit, keine Wohnung – volles Risiko. „Aber ich dachte, es wird schon klappen.“
Über seine Freundin Nema bekommt er Kontakt zu Tobias Knabe, dem Integrationshelfer im Flüchtlingshaus der Creativen Kirche. Der gibt ihm eine kleine Wohnung, stundet ihm die Miete, weil er noch keine Arbeit hat.
Unterkunft auf Zeit
Das Haus in der Arndtstraße hat die Stiftung Creative Kirche in der Flüchtlingskrise 2015 gekauft. „Nach Angela Merkels Satz ,Wir schaffen das‘ haben wir überlegt, wie wir dabei helfen können“, erklärt Vorstand Martin Bartelworth. Den Flüchtlingen Wohnraum zu geben und ihnen bei der Ankunft in der neuen Kultur zu helfen, sollte ein Beitrag dazu sein.
In dem Haus gibt es fünf Wohnungen, die noch immer an Flüchtlingen verschiedener Länder vermietet sind. Es haben dort u.a. schon Iraker, Syrer und Kurden gewohnt, im letzten Jahr sind auch Ukrainer eingezogen. Sie können dort bleiben, bis sie den Sprung in die Selbstständigkeit schaffen, ein zeitliches Limit gibt es nicht. Bartelworth: „Wenn eine Familie keine Chance auf dem regulären Wohnungsmarkt hat, dann kann sie bleiben.“
Tobias ist es auch, der Mostafa ermuntert, nicht auf Dauer als Aushilfe bei Paketdiensten zu arbeiten, sondern sich wieder Arbeit als Elektriker zu suchen. Er hilft ihm bei der Bewerbung, der Ex-Chef aus Bad Homburg schreibt dem jungen Syrer ein Arbeitszeugnis.
So findet Mostafa einen Job, erst bei einer Zeitarbeitsfirma, dann, im August 2019, bei Elektro Wieshoff. „Als die Zusage kam, hatte meine Frau mir gerade gesagt, dass sie schwanger ist“, erzählt er – und seine Augen strahlen. Inzwischen hat er eine Tochter und einen Sohn.
Juniorchef ermutigt Mostafa, eine Ausbildung zu machen
Ein Jahr arbeitet Mostafa in Heven. Dann ermutigt ihn Juniorchef Heinrich Wieshoff eine reguläre Ausbildung zu machen. In Syrien hatte er bereits den Abschluss, doch der wird hier nicht anerkannt. Doch jetzt wieder in die Lehre, wo er für seine kleine Familie sorgen muss?
Der Chef hilft ihm, zahlt ihm weiter sein Gehalt und sogar noch ein bisschen mehr. Mostafa ergreift die Chance. Nun steht er kurz vor dem Abschluss – als einer der besten seines Jahrgangs.
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Die geglückte Überfahrt, der Job, die Wohnung: Mostafa, sind Sie ein Glückskind? „Nein“, sagt der 32-Jährige und schüttelt den Kopf. „Ich hatte nur das Glück, immer gute Leute zu treffen, die mir geholfen haben.“ Die alte Frau in Bad Homburg, Tobias, der Integrationshelfer, sein Chef Heinrich Wieshoff. „Ohne die wäre es nicht gegangen.“
Aber auch nicht ohne seinen Willen, sich zu integrieren. Deshalb hat Mostafa rasch angefangen, Deutsch zu lernen. Inzwischen spricht er fast fehlerfrei. „Das ist wichtig“, sagt er. „Die Sprache ist der Schlüssel zum Land.“ Er ist dankbar für all die Hilfe, die seine Landsleute von Deutschland und Europa bekommen haben. Darauf ausruhen will er sich nicht. „Es kommt der Punkt, an dem die Flüchtlinge selbst Verantwortung für ihr Leben übernehmen müssen.“
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Mostafa Al Hajtaher hat das getan. Nach dem Examen will er sein Studium zu Ende bringen, in Teilzeit, neben der Arbeit. Ein eigenes Haus bauen, das wäre sein Traum. Die deutsche Staatsbürgerschaft haben er und seine Frau Nema bereits beantragt. Deutschland ist ihre neue Heimat. Syrien, die alte, bleibt dennoch unvergessen. „Die Sehnsucht ist da, jeden Tag.“