Witten. Ein Jahr, das schnell vorüberging: Die Familie Kovtok gehörte zu den ersten Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine in Witten. So geht es ihnen heute.
Mutter Maria (32) wiegt das vier Monate alte Baby Matwey, David, der älteste Sohn, spielt ein paar Takte auf dem Keyboard. Nazar (5) und Kirill (3) flitzen durch die Wohnung. Draußen herrscht Ruhe und Frieden, es ist später Nachmittag in der Mietshaussiedlung in Bommern. Es gibt nichts, was die Familie erschrecken muss – keine Selbstverständlichkeit, wenn man aus der Millionenstadt Charkiw kommt, die seit einem Jahr immer wieder von Russland bombardiert wird. Die Kovtoks gehörten zu den ersten ukrainischen Kriegsflüchtlingen, die am 2. März 2022 abends in Witten ankamen.
Vater Nikita kann sich noch gut an den Anfang des Krieges erinnern, heute vor einem Jahr, am 24. Februar. „Um fünf Uhr morgens riss uns eine große Explosion aus dem Schlaf. Luftbomben und Raketen fielen auf die Stadt“, sagt der 33-Jährige. Das sollte in den nächsten Tagen gar nicht mehr aufhören. Charkiw liegt im Osten des Landes, nicht weit von der russischen Grenze entfernt. Die junge, damals noch fünfköpfige Familie lebte in einer Eigentumswohnung in einer Hochhaussiedlung, wie sie typisch für viele Städte in Osteuropa sind. „Zwölf Stockwerke. Wir wohnten im elften“, sagt Nikita, der einen guten Job als Elektroinstallateur an einer Universität hatte. Eigentlich fehlte ihnen nichts, bis der Krieg kam.
Wittens Bürgermeister empfängt die Familie
Wenige Tage später entschließen sich die Eltern zur Flucht. Vier Tage sind sie mit dem Auto unterwegs, auch Marias Mutter ist dabei, bis sie abends in Witten ankommen. Dort empfängt sie Bürgermeister Lars König in der Sammelunterkunft an der Brauckstraße. Todmüde findet sich Maria Kovtok auf einmal mit zwei schlafenden Kindern auf dem Arm in einem fremden Land, einer fremden Stadt wieder.
Seitdem ist viel Zeit vergangen und trotzdem ging das Jahr schnell vorbei, sagen die Ukrainer. Sie bekommen erst eine kleine Wohnung in Bommern, wo sie Tür an Tür mit noch kinderreicheren Familien aus der Ukraine leben. Inzwischen sind sie nach dem Tipp eines Freundes in schönere, etwas größere Räume gezogen, die ihnen ebenfalls die Genossenschaft Witten-Miete vermietet. „Diese Wohnung ist ein Wunder“, sagt Nikita Kovtok. Eigentlich war sie für eine andere Familie bestimmt. Doch die war inzwischen in die Ukraine zurückgekehrt.
Ob auch sie manchmal an Rückkehr denken? „Gerade heute hat es wieder einen Angriff auf unsere Siedlung in Charkiw gegeben“, sagt der junge Familienvater. „Wir wissen nicht, ob die nächste Rakete nicht unser Haus trifft. Wie sollen wir da an Rückkehr denken?“ Er glaubt, dass dieser Krieg noch Jahre dauert. Sie richten sich darauf ein, lange in Witten zu bleiben.
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„Deutschland ist sehr freundlich zu uns. Wir haben viele gute Menschen getroffen“, sagt der Ukrainer. „Wir sind dankbar und fühlen uns beschützt.“ Der älteste Sohn David (6) besucht die erste Klasse der Brenschenschule, sein Bruder Nazar (5) soll im Sommer in die Kita kommen. Nikita Kovtok hat im Juli Arbeit als Lagerist gefunden, seine Frau Maria hat alle Hände voll zu tun mit den Kindern. David lernt in der Musikschule Klavier, unterrichtet wird er von einer Frau aus Charkiw, die seit 20 Jahren in Witten lebt.
Keine Frage, die Familie ist hier angekommen. Ihre Kraft schöpft sie aus dem Glauben, wie viele Landsleute gehört sie der freien evangelischen Baptistengemeinde in Annen an. Natürlich geht der Kontakt nach Charkiw ebenfalls nicht verloren. David skypt mit Freunden und Bekannte schicken Bilder per Whatsapp, immer wieder auch von den Zerstörungen. „Das war vier Kilometer von unserem Haus entfernt“, sagt Nikita und zeigt auf ein schwer getroffenes Wohngebäude. Offenbar liegt es gleich neben einem Spielplatz.
„Seelen sind in der Ukraine“
In Witten herrscht kein Krieg, das müssen sie den Kindern immer mal wieder sagen, wenn die sich wegen eines lauten Geräuschs erschrecken. Und trotzdem ist die Sehnsucht nach der Heimat groß. „Wir leben jetzt in Deutschland“, sagt Nikita Kovtok leise, „unsere Seelen sind aber in der Ukraine.“