Witten. Wenn Schwangere zur Flasche greifen, hat das schwere Folgen fürs Kind. Eine Beratungsstelle in Witten hilft Betroffenen, das Leben zu meistern.
Eigentlich, sagt Catrin Schmock-Ocken, „möchte ich diesen Job gar nicht machen müssen“. Sie ist die bislang einzige hauptamtliche Mitarbeiterin der FASD-Beratungsstelle beim DRK Witten. Die 42-Jährige unterstützt also Kinder und junge Menschen mit fetalem Alkohol-Syndrom. Sie sind schwer geschädigt, weil ihre Mütter in der Schwangerschaft zur Flasche gegriffen haben. Das geschehe oft aus Unwissen, „wäre also vermeidbar gewesen“.
Deshalb auch ist Prävention ein wichtiger Baustein ihrer Arbeit. Catrin Schmock-Ocken geht in Schulen, um schon dort darüber aufzuklären, was Wein, Bier, Schnaps oder Sekt beim Ungeborenen im Mutterleib anrichten kann. Denn die Plazenta, die sonst den Embryo vor Schadstoffen schützt, lasse das Nervengift Alkohol zu 100 Prozent in den Blutkreislauf des Kindes gelangen. Dadurch würden bestimmte Entwicklungsprozesse unterbrochen. „Bei schwerem Alkoholkonsum geht das Kind häufig als Fehlgeburt ab. Das ist bis in die 27. Schwangerschaftswoche hinein möglich“, erklärt die Beraterin.
Wittener Beraterin: Alkohol unterbricht Entwicklungsprozesse
Alle anderen Kinder kommen mit teils schweren geistigen und körperlichen Störungen auf die Welt – die auf den ersten Blick manchmal gar nicht auffallen. Catrin Schmock-Ocken holt eine Puppe hervor, die aussieht wie ein normales Baby. Doch die Heilpädagogin macht auf Verschiedenes aufmerksam. Der Kopf ist kleiner als bei anderen Neugeborenen. Die Ohren sitzen tiefer. Die Lidachse ist verdreht, die Oberlippe sehr schmal. Die kleine Mulde zwischen Nase und Mund fehlt, man nennt dies auch „verstrichenes Filtrum“.
„Als Fötus sehen wir zu einem bestimmten Zeitpunkt alle so aus. Doch der Alkohol unterbricht weitere Entwicklungsprozesse.“ Außerdem werde das zentrale Nervensystem im Gehirn geschädigt. „Betroffene Kinder fallen durch seltsames Verhalten auf“, so Schmock-Ocken. Sie können zum Beispiel Risiken nicht einschätzen, sind naiv und zu vertrauensselig, lernen nicht aus Fehlern, haben Konzentrationsschwierigkeiten und sind vergesslich. Oft werden sie als frech und faul bezeichnet.
Symptome ähnlich wie bei Autismus
Infoabend für alle Interessierten
Die FASD-Beratungsstelle des DRK Witten veranstaltet am Donnerstag, 24. August, ab 17.30 Uhr ihren ersten Infoabend. Heilpädagogin Catrin Schmock-Ocken wird erklären, welche Auswirkungen Alkohol in der Schwangerschaft auf das Kind hat und wie die Beratungsstelle Betroffenen und Angehörigen helfen kann.
Der Infoabend findet in den Räumlichkeiten des Autismus-Therapiezentrums (ATZ) an der Ardeystraße 27 statt, wo auch die FASD-Beratung ihren Platz hat. Um Anmeldung wird gebeten: 02302 91016 321, catrin.ocken@drk-witten.de.
„Bei den Symptomen gibt es viele Überschneidungen mit jenen von Autismus.“ Deshalb auch sei die Diagnostik nicht leicht. Erst seit einigen Jahren sei das Syndrom durch intensivere Forschungen bekannter geworden. Catrin Schmock-Ocken arbeitet selbst seit zehn Jahren im Autismus-Therapiezentrum des DRK Witten. Dort habe es immer schon Klienten mit Doppel-Diagnose gegeben.
Seit drei Jahren baut sie deshalb die FASD-Beratungsstelle immer weiter aus, hat sich selbst zur FASD-Fachkraft fortbilden lassen. Seit September 2022 ist die Anlaufstelle für Betroffene und Angehörige an der Ardeystraße als solche offiziell anerkannt. Aktuell wird sie noch von der Aktion Mensch gefördert. Die Diagnostik jedoch erfolgt nicht hier, sondern in Fachzentren oder bei Fachärzten.
Wittener Beratungsstelle leistet Hilfe zur Selbsthilfe
Catrin Schmock-Ocken dagegen leistet Hilfe zur Selbsthilfe. „Das Leben der Betroffenen ist fokussiert auf das, was sie nicht können“, weiß die Expertin. Sie möchte ihnen dabei helfen, ihre sozialen und kommunikativen Kompetenzen zu erweitern, um ihnen so mehr Zufriedenheit zu vermitteln.
Dazu gehöre etwa auch, dass eine 22-jährige Klientin, die emotional auf dem Stand eines dreijährigen Kindes ist, in der Praxis mal mit Lego spielen darf – weil das eben ihrem Bedürfnis entspricht. Manchmal würden sich Störungen mit der Zeit auswachsen. „Aber manchmal muss man auch akzeptieren, dass das Gehirn geschädigt ist und der Förderung Grenzen gesetzt sind.“
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Die Dunkelziffer der Betroffenen sei hoch, sagt die Heilpädagogin. Dass in der Schwangerschaft Alkohol getrunken werde, ziehe sich durch alle Schichten, sei aber in milieuschwächeren Familien stärker ausgeprägt – und manchmal nur eine hilflose Reaktion. „Schließlich wird man oft schief angeschaut, wenn man nichts trinken will.“ Catrin Schmock-Ocken weiß das selbst nur zu gut, denn Alkohol ist für sie tabu.
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Was sie außerdem weiß: Selten wird eine Mutter zugeben, während der Schwangerschaft Alkohol getrunken und ihr Kind dadurch geschädigt zu haben. Ein dünnes Büchlein könnte dabei helfen, diese Hemmschwelle zu überwinden. Es richtet sich eigentlich an Kinder und beschreibt das Syndrom „auf nette und unstigmatisierende Art“, so die Beraterin. Hauptfigur ist ein Otterkind. Der Titel lautet schlicht „Kugy ist anders“.