Witten. . Veneras Sohn ist Autist. Im Alltag findet er sich schwer zurecht. Dank einer Therapie macht er Fortschritte, doch Herausforderungen bleiben.
Auf den ersten Blick wirkt David* einfach wie ein etwas zurückhaltender elfjähriger Junge. Fragen beantwortet er höflich, aber kurz und knapp. Augenkontakt hält er einige Sekunden, dann senkt er den Blick. Einige Minuten später tobt er mit seiner kleinen Schwester. „Die Diagnose kam erst spät, aber uns war lange klar, dass er anders ist. Es fehlte nur das Wort“, sagt seine Mutter Venera. Das Wort, um das die Familie so lange rang: Autismus.
Seit rund vier Jahren begleiten die Mitarbeiter des DRK Autismus-Therapie-Zentrums an der Ardeystraße nun David und seine Familie. Einmal die Woche kommt der Gymnasiast hierher. Nach der Diagnose – kurz vor Davids Einschulung – habe sie die ersten Tage sehr viel geweint, erinnert sich Mutter Venera. „Aber ich war auch sehr froh endlich zu wissen, was los ist und wo man ansetzen kann.“
Stets ein ruhiges Kind
Davor wusste die 38-Jährige nur, dass ihr Kind außergewöhnlich ist. „Ich habe immer gesagt, man muss anders mit ihm reden und umgehen.“ Mit acht Monaten sprach David sein erstes Wort, mit zweieinhalb Jahren hatte er sich selbst das gesamte Alphabet beigebracht. „Und mit drei Jahren hat er in der Kita im Wechsel mit den Erzieherinnen den anderen Kindern vorgelesen“, erinnert sich Venera.
Doch, so fasst es seine Mutter in Worte, „sein Fühlen war immer anders. Es ist einfach schwierig für ihn, sich in unserer Welt zurecht zu finden, sich so zu verhalten, wie es erwartet wird.“ David war stets ein ruhiges Kind, saß gerne zurückgezogen in einer Ecke und beschäftigte sich selbst. „Er ist nie viel herumgesprungen, hat sich immer an Regeln gehalten“, sagt seine Mutter.
Gute und schlechte Phasen
Das Leben mit ihrem Sohn will gut geplant sein. „Spontan geht gar nichts“, sagt Venera. „Ich muss ihm am besten morgens direkt sagen, was am Tag ansteht. Und dann nochmal mit einer halben Stunde Vorlauf daran erinnern.“ Ihr Sohn habe gute und schlechte Phasen, sei manchmal sehr empfindlich und angespannt. Auch die Kommunikation kann eine Herausforderung sein. „Er versteht die Dinge oft anders, als sie gemeint sind. Man muss alles genau benennen.“
Noch heute lachen David und seine Therapeutin Julia Becker über eines ihrer Missverständnisse. „Wir haben gekocht, David hat den Tisch feucht abgewischt. Dann habe ich gesagt: ‘Mach das bitte auch trocken.’ Da hat er versucht, den nassen Lappen trocken zu bekommen“, erzählt Becker, während sich der Elfjährige neben ihr vor Lachen fast verbiegt. „Er versteht mittlerweile auch Humor, sogar schwarzen. Und Sprichwörter. Das hätte ich nie gedacht“, sagt seine Mutter glücklich.
Jeder denke beim Stichwort „Autismus“ sofort an den Film „Rainman“. „Und alle werden in einen Topf geworfen.“ Doch die Diagnose Autismus umfasst ein breites Spektrum an Ausprägungen. Davids Autismus ist eine eher milde Variante. Auch wenn ihm soziale Interaktion schwer fällt, lebt er nicht zurückgezogen in seiner eigenen Welt. „Es gibt das Sprichwort: Wenn du einen Autisten kennst, kennst du wirklich nur einen“, sagt Venera.
„Verdammt viele Fortschritte gemacht“
Dank der Therapie im Autismuszentrum des DRK hat David „verdammt viele Fortschritte“ gemacht, erzählt seine Mutter zufrieden. So würde er heute etwa deutlich besser mit Geräuschen und Lautstärke, aber auch mit Menschenmengen umgehen können. Auch habe er gelernt, das zu sein, was wir ‘höflich’ nennen. „Er hat sonst auch gerne mal vor Besuch zu mir gesagt, dass die anderen Leute ihn stören und gehen sollen“, erinnert sich Venera.
Und sie werden weiter zur Therapie gehen. Denn einen sehr innigen Wunsch hat die 38-jährige Mutter für ihren Sohn: „Ich möchte, dass er irgendwann eigenständig leben kann. Denn niemand wird sich so um ihn kümmern wie ich. Und eines Tages werde ich nicht mehr da sein.“
*Name von der Redaktion geändert
>>>„Stereotyp vom verkappten Genie stimmt nicht“
Das Autismus-Therapie-Zentrum des DRK hat im April 2013 seine Arbeit aufgenommen. Aktuell betreuen Leiterin Kerstin Vesper und ihre acht Mitarbeiter 106 Klienten im Alter von drei bis 50 Jahren. Das Team arbeitet mobil und ambulant, besucht die Familien auch zuhause, spricht mit Erziehern und Lehrern.
„So sind wir ganz nah dran, sehen, welche Hilfestellungen vor Ort gebraucht werden“, sagt Vesper. Oberstes Ziel der Therapie sei es, dass die Familien im Anschluss selbstständig klarkommen. Daher sei die Therapie nicht auf Dauer angelegt, viele Kinder und Jugendliche würden auch nach einer gewissen Zeit therapiemüde. „Und gerade für Jugendliche ist es ein schönes Zeichen, ihnen zu sagen: ,Jetzt schaffst du das alleine’.“ Im Schnitt bleiben die Klienten zwei bis drei Jahre in Therapie.
Ältere Autisten fallen meist weniger auf
Autismus ist nicht heilbar. Die Therapie helfe aber dabei, mit den Auswirkungen besser zurecht zu kommen. „Wir erarbeiten gemeinsam Verhaltensstrategien“, sagt Vesper. Ältere Autisten würden daher zumeist weniger auffallen, weil sie bereits gelernt hätten, was die Gesellschaft von ihnen erwartet.
Oft zeichnen sich autistische Menschen durch besondere Interessen aus, in denen sie ganz aufgehen. „Aber das Stereotyp vom verkappten Genie stimmt nicht“, betont Vesper. „Die Bandbreite reicht von geistiger Behinderung bis Hochbegabung.“
Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie die Welt auf eine andere Art und Weise wahrnehmen. „Unsere Schranken funktionieren einfach besser“, bringt es Vesper auf den Punkt. Wie ein Autist unsere Welt sehe sei vergleichbar mit einem Besuch in China. „Da kennen wir die sozialen Regeln auch nicht, wissen daher nicht, was richtig und was falsch ist.“