Witten. Lärm geht gar nicht. Berührung auch nicht. Im Autismus-Therapie-Zentrum Witten lernen Betroffene seit zehn Jahren, dass sie nicht verrückt sind.

Vor zehn Jahren hat das DRK Witten sein Autismus-Therapie-Zentrum (ATZ) auf dem Sonnenschein eröffnet. Im Juni 2016 folgte der Umzug in größere Räume an der Ardeystraße. Längst gehören nicht nur Kinder und Jugendliche zu den Klienten, sondern auch Erwachsene. „Der Bedarf ist riesig“, sagt Leiterin Kerstin Vesper – und seit Corona noch gewachsen.

Kerstin Vesper leitet das Autismus-Therapie-Zentrum in Witten. Dort gibt es jetzt auch einen Werkraum.
Kerstin Vesper leitet das Autismus-Therapie-Zentrum in Witten. Dort gibt es jetzt auch einen Werkraum. © FUNKE Foto Services | Rainer Raffalski

Haben sie und ihr Team anfangs gerade mal drei Menschen betreut, sind es inzwischen 150, davon rund ein Drittel Erwachsene. „Ich habe 60 Erstkontakte im Jahr und noch mehr Anfragen“, so Vesper. Die Wartezeit betrage sechs bis neun Monate. „Wer nur Freitagnachmittag kommen kann, wartet ewig“, verweist die 42-Jährige auf beliebte Termine – und macht dennoch Hoffnung: „Es kann auch mal total schnell gehen.“

Klienten in Witten sind zwischen drei und 60 Jahre alt

Drei bis 60 Jahre alt sind die Klienten mit Autismusspektrumsstörungen in Witten. Weil Diagnosen inzwischen deutlich genauer gestellt werden können, finden auch Studierende, Arbeitssuchende sowie Familienväter und -mütter immer häufiger den Weg ins ATZ – und sind froh, dass sie nun wissen, was mit ihnen nicht stimmt. „Ich hatte immer Schwierigkeiten. Aber ich hatte keinen Namen dafür.“ Diesen Satz hört Kerstin Vesper häufig.

Autisten haben Probleme in der Interaktion mit anderen Menschen, können soziale Regeln nicht verstehen. „Sie wissen nicht, wie man Freundschaften knüpft oder Smalltalk macht“, erklärt die ATZ-Leiterin. „Sie sind durchaus gefühlvoll, wissen aber nicht, wie man Emotionen äußert.“ Deshalb wirken manche oft reserviert. Schon alltägliche Dinge können sie vor riesige Schwierigkeiten stellen.

Wittener Leiterin: Alles kann unangenehm sein

Bestimmte Geräusche würden als unangenehm empfunden. So bleiben etwa die Fenster in den Therapieräumen in der Regel geschlossen, damit Straßenlärm oder Glockengeläut nicht hereindringt. Bald müssen neue Stühle angeschafft werden, befürchtet Vesper. Denn die Alten knarzen. Vesper erzählt von einem Klienten, den das Staubsaugen in der über ihm liegenden Wohnung schier verrückt macht. Dem es aber auf Schützenfesten nicht laut genug sein kann. Helles Licht, Berührung oder nur das Öffnen einer Tür – auch das kann problematisch sein. „Eigentlich alles.“

Ganz neu: Seit Kurzem bietet das Autismus-Therapie-Zentrum auf dem Sprockhöveler Carlinenhof tiergestützte Therapie an.
Ganz neu: Seit Kurzem bietet das Autismus-Therapie-Zentrum auf dem Sprockhöveler Carlinenhof tiergestützte Therapie an. © DRK-Kreisverband Witten

Homeschooling oder Homeoffice während der Pandemie? Für viele der Horror, weil Abläufe plötzlich anders waren. „Da ging bei manchen gar nichts mehr“, weiß die Leiterin. Außenstehende, so Vesper, können sich sowas kaum vorstellen. Auch würden viele Autisten nicht eingeschränkt wirken. „Man sieht es ihnen nicht an.“

Symptome ähnlich wie bei ADHS oder Depression

Oft erhalten die Betroffenen zunächst andere Diagnosen: ADHS, Angststörung, Depression. Vesper: „Die Symptome können sehr ähnlich sein.“ Meist würden sie erstmals zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr auftreten. Die Kinder seien oft sehr unruhig und ihre Sprache kaum entwickelt. Autismus, sagt Vesper, „ist angeboren“. Ursache sei eine andersartige Entwicklung des Gehirns. „Das macht einfach Chaos, kann bestimmte Reize nicht ausblenden.“ Eine Inselbegabung, also ein Talent in einem speziellen Bereich, komme dabei aber seltener vor, als viele glauben.

Jubiläumsfeier Ende April

Es gibt nicht viele Therapie-Angebote für Menschen mit Autismus in Witten. Die Lebenshilfe bietet im Rahmen ihrer Frühförderung zum Beispiel eine Therapie für kleine Kinder an.

Das Autismus-Therapie-Zentrum des DRK befindet sich an der Ardeystraße 27 und ist erreichbar unter 02302 91016 321. Inzwischen gibt es auch einen Ableger an der Karl-Lange-Straße 53 in Bochum, weil viele Klienten von dort kommen.

Das DRK feiert das zehnjährige Bestehen des Wittener Zentrums Ende April (22./23.4.). Die Vorbereitungen dafür laufen gerade. Geplant sind etwa ein Spendenlauf und eine „Stille Stunde“ in einem Supermarkt. Außerdem soll ein kleines Büchlein mit Mutmach-Geschichten von Betroffenen erscheinen.

Bei Erwachsenen, die ihre Diagnose spät erhalten, sei viel Biografiearbeit nötig, „damit sie mit sich ins Reine kommen“. Manchen reiche aber auch, schlicht zu wissen: Ich bin nicht verrückt. Vesper: „Sie können auch ohne Therapie leben.“ Allen anderen helfen strukturierte Abläufe, die sie etwa mit Hilfe von Piktogrammen oder Ablaufplänen erlernen. Auch Rollenspiele können Teil der Therapie sein. Oder ein Besuch im Raum der Begegnung eine Etage höher, in dem Kicker und Tischtennisplatte stehen.

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Nicht zuletzt lädt die unmittelbare Umgebung des Autismus-Therapie-Zentrums zu alltagspraktischen Übungen ein. Das Boni-Center liegt gleich nebenan. Ebenso die viel befahrene Ardeystraße. Sie zu überwinden, kann eine Hürde sein. Oder in den zweiten Stock zum Zentrum zu gelangen, wenn das Treppenhaus voller Menschen ist.

Auch Eltern und Angehörige profitieren von der professionellen Begleitung. Denn sie wissen nun endlich, so Kerstin Vesper, wie ein Mensch mit Autismus die Welt sieht.